Mehr Schein als Sein: Warum Kanzleien ihre technologische Reife überschätzen und was jetzt passieren muss (Teil 2/2)

Was möglich ist: Ein Praxisbeispiel für digitale Unterstützung
Um die abstrakte Diskussion zu veranschaulichen: Stellen Sie sich einen einfachen, aber häufig vorkommenden Vorgang vor. Eine E-Mail eines Mandanten mit einem dringenden Anliegen und einem Vertragsentwurf im Anhang trifft ein. Statt vieler manueller Schritte könnte ein gut implementierter digitaler Prozess Folgendes leisten: Automatisches Erkennen des Vorgangs, Anlegen eines To-Dos im Kanzleisystem, Setzen einer Antwortfrist auf Basis interner Regeln oder SLAs des Mandanten, Eintrag in den Kalender des zuständigen Anwalts. Das System erkennt den Vertragstyp, findet im Dokumentenbestand die passende interne Checkliste oder Vorlage zur Prüfung und generiert sogar einen ersten Entwurf für eine standardisierte Bestätigungs-E-Mail an den Mandanten. Dies ist keine ferne Zukunftsmusik, sondern ein Beispiel für eine durchdachte Prozessautomatisierung durch punktuellen Einsatz einzelner KI-Funktionen, die Anwälte von Routineaufgaben entlastet, die Bearbeitungsqualität und -geschwindigkeit erhöht und Fehler reduziert – ermöglicht durch eine relativ simple Kombination aus klarem Prozessverständnis, guter Datenintegration und passender Technologie. Und ganz ohne explizites juristisches Fachwissen.
Der Weg nach vorn: Professionalisierung statt Aktionismus – Mit ersten Schritten
Was ist also konkret zu tun? Es braucht den Perspektivwechsel – weg vom isolierten Projektdenken und oberflächlichen Aktionismus, hin zu einer nachhaltig verankerten Technologiekompetenz als fest installierter Bestandteil der Kanzleiführung. Hier sind fünf Ansatzpunkte mit jeweils einem konkreten ersten Schritt:
1. Technologie-Funktion auf oberster Führungsebene etablieren:
Digitalisierung ist das zentrale Management-Thema. Kanzleien brauchen eine echte, mit klarer Budget- und Führungsautorität ausgestattete Technologierolle auf Augenhöhe mit der Partnerschaft oder im C-Level (CTO/CIO). Diese Person oder Funktion muss in der ganzen Breite die technologische Vision entwickeln, die Architektur verantworten, Standards setzen und die Umsetzung steuern. Ein „IT-Ausschuss“ oder ein nebenbei agierender Partner reicht nicht mehr.Erster Schritt für morgen: Setzen Sie ein dreistündiges, klausurähnliches Meeting ausschließlich für die geschäftsführenden Partner an, um den ungeschminkten Status Quo der Kanzlei-IT und die strategische Ambition im Bereich KI und Technologie zu diskutieren und (schriftlich!) zu dokumentieren. Integrieren Sie dazu einen Sparringspartner ihres Vertrauens mit echter Technologie- und Managementkompetenz.
2. Fokus auf das Fundament legen:
Bevor man über spezialisierte KI-Anwendungen oder Eigenentwicklungen nachdenkt, müssen die Grundlagen stimmen: eine moderne, skalierbare und sichere IT-Infrastruktur, saubere und zugängliche Datenstrukturen/-prozesse sowie gelebte Sicherheitskonzepte. Ohne dieses Fundament bleibt jede Tech-Initiative Stückwerk.Erster Schritt für morgen: Beauftragen Sie eine unabhängige Schnell-Analyse (Audit) Ihrer Kern-IT-Systeme: Sind sie bereit für Cloud, moderne Plattformen und KI-Integration? Worauf können wir direkt aufsetzen und wo liegen die größten technischen Schulden und Sicherheitsrisiken?
3. Ganzheitlichen Ansatz statt Tool-Sammlung verfolgen:
Es braucht keine weiteren isolierten Tool-Käufe, sondern einen ganzheitlichen Ansatz. Das bedeutet: Geschäftsprozesse analysieren, standardisieren und neu gestalten, bevor Technologie eingeführt wird; auf integrierte Plattformen setzen; eine klare Datenstrategie verfolgen. Tools müssen dort zum Einsatz kommen, wo der langfristig größte wirtschaftliche und strategische Nutzen erreichbar ist.Erster Schritt für morgen: Wählen Sie einen häufigen, intern oder extern schmerzhaften Prozess (z.B. Aktenanlage, Rechnungsstellung, NDA-Prüfung) aus. Denken Sie nicht an bestimmte KI-Funktionen, sondern visualisieren Sie ihn gemeinsam mit den tatsächlich beteiligten Personen (Anwälte, Assistenz, Verwaltung) detailliert auf einem Whiteboard – inklusive aller Medienbrüche, Wartezeiten und Frustrationen.
4. Echte Kompetenz aufbauen oder einkaufen:
Kanzleien müssen akzeptieren, dass sie professionelle Technologie-, Daten- und Prozesskompetenz benötigen, die über juristisches Fachwissen hinausgeht. Ob diese Expertise intern aufgebaut oder extern eingekauft wird, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass sie dauerhaft vorhanden ist, respektiert wird und strategisch eingesetzt werden kann.Erster Schritt für morgen: Erstellen Sie eine Liste: Welche Technologie-, Daten- und Prozess-Kompetenzen (z.B. Cloud-Architektur, Datenanalyse, Prozessoptimierung, IT-Security, Projektmanagement) haben wir heute wirklich intern auf professionellem Niveau? Welche brauchen wir laut unserer Ambition (aus Schritt 1)? Wo klafft die größte Lücke?
5. Mut zur Entscheidung und konsequenten Umsetzung zeigen:
Analyse ist wichtig, aber endloses Analysieren ohne Entscheidung lähmt. Es braucht den Mut, mit pragmatischen MVPs zu starten, zu lernen und anzupassen. Auf dieser Basis braucht es dann aber auch konsequente Entscheidungen zur Skalierung, um über die Phasen von Pilotierung und Tests hinauszukommen.Erster Schritt für morgen: Identifizieren Sie einen klar definierten, internen ‚digitalen Quick Win‘, der einen echten Schmerzpunkt adressiert und mit überschaubarem Aufwand (idealweise mit vorhandenen Mitteln) in 30 Tagen umsetzbar ist (z.B. KI-Unterstützung in einem einfachen Prüfungs- und Freigabeprozesses). Benennen Sie einen klaren Verantwortlichen und geben Sie ihm/ihr das Mandat und grünes Licht zur Umsetzung.
Fazit: Die Zeit der Ausreden ist vorbei
Die Kanzleiwelt befindet sich an einem technologischen Wendepunkt. Schon heute kommt kaum ein Mandatsprojekt ohne digitale Unterstützung aus, und es liegt auf der Hand, dass diese technologische Durchdringung durch KI noch viel weiter gehen wird. Diejenigen Kanzleien, die weiterhin auf oberflächliche Maßnahmen, Alibi-Projekte und die trügerische Hoffnung setzen, dass engagierte juristische Nachwuchskräfte den Wandel schon irgendwie nebenbei gestalten werden, riskieren ihre Zukunftsfähigkeit. Künstliche Intelligenz wird die Art und Weise der juristischen Arbeit grundlegend verändern – aber nicht wie von Zauberhand, sondern man muss es selbst in die Hand nehmen. Effizienzgewinne werden bald zur Commodity, der entscheidende Hebel liegt in der Steigerung der Qualität und der Entwicklung neuer Dienstleistungen und Service-Modelle.
Wer diesen Wandel nicht nur überleben, sondern aktiv gestalten will, muss zuallererst die digitale Selbsttäuschung beenden. Technologie muss als das begriffen werden, was sie ist: ein zentraler, strategischer Pfeiler der Wertschöpfung und Leistungserbringung, der professionelle Führung, eine solide Architektur, echte Investitionen und vor allem echte Technologiekompetenz erfordert. Die technologische Fähigkeits- und Kompetenzlücke in den meisten Kanzleien muss dringend und ehrlich adressiert und geschlossen werden. Alles andere ist nicht nur nachlässig, sondern könnte sich sehr bald als existenzielles Risiko herausstellen.
Dies war Teil 2 des Artikels. Teil 1 finden Sie hier.
Autor: Christian Ammer ist mehrfach ausgezeichneter CIO und Co-Autor des „Praxis-Guide für Digital Leader“. Nach Stationen in der Finanzbranche und als CIO und Head of Digitale Transformation bei Noerr hat er 2024 F.ECTIVES gegründet. Gemeinsam mit Christoph Vaagt hilft er Kanzleien, Digitalisierung strategisch zu verankern und mit einem Team aus Legal Engineers auch praktisch umzusetzen. Mehr zu seinem Profil und Kontaktmöglichkeit bei LinkedIn