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Mehr Schein als Sein: Warum Kanzleien ihre technologische Reife überschätzen und was jetzt passieren muss (Teil 1/2)

Die gefährliche Illusion des Fortschritts

Seit der COVID-Pandemie und befeuert durch den aktuellen KI-Hype haben die meisten Kanzleien ihre Technologiebemühungen intensiviert und wähnen sich auf einem guten Weg der Digitalisierung. Man spricht über Legal Tech, evaluiert Tools, benennt Verantwortliche – oft engagierte Associates – und präsentiert auf Konferenzen erste KI-Experimente. Ein Gefühl des Fortschritts macht sich breit, genährt durch die Erwartungen an künstliche Intelligenz und die zahlreichen Lösungen, die derzeit auf den Markt kommen. Doch kratzt man an der Oberfläche dieser „Digitalisierungsbemühungen“, offenbart sich oft ein ernüchterndes Bild: Eine strategische Gesamtidee fehlt, die technologische Basis ist häufig unzureichend, und echte Führung durch Technologie-Experten findet kaum statt. Statt eines konsequenten Umbaus zur digital befähigten und zukunftsfähigen Kanzlei sehen wir oft nur technologische Einzelinitiativen. Dieser Beitrag argumentiert: Viele Kanzleien leiden unter einer gefährlichen Selbsttäuschung. Sie unterschätzen die Tiefe der notwendigen Veränderungen und überschätzen ihre eigene Fähigkeit, diesen Wandel zu gestalten. Das Ergebnis ist eine Illusion von Fortschritt, die echte, nachhaltige Zukunftsfähigkeit gefährdet.

Die sechs Kernprobleme: Warum Digitalisierung in Kanzleien oft scheitert

Die Erfahrungen – längst bekannt (und weitgehend überwunden) in Industrie und Finanzwirtschaft, aber erst jetzt auch ganz offensichtlich in der Rechtsbranche – zeigen wiederkehrende Muster, warum der digitale Wandel in Kanzleien stockt oder nur oberflächlich bleibt:

1. Fehlendes Zielbild & strategische Naivität:

Wo wollen wir in drei Jahren technologisch stehen? Wie sieht eine wirklich digitalisierte Kanzlei aus? Wie integrieren wir Technologie fundamental in unsere Mandatsarbeit? Diese Fragen bleiben oft unbeantwortet. Statt einer klaren Vorstellung und daraus abgeleiteten strategischen Roadmap dominieren Buzzwords und reaktives Handeln auf Marktimpulse. Viele reden über KI, ohne zu wissen, welche Anwendungsfälle realistisch, breit einsetzbar, sinnvoll und vor allem strategisch relevant sind. Ohne Zielbild bleibt jede Maßnahme Stückwerk, ein isoliertes Projekt ohne Gesamtwirkung.

2. Unklare Nutzenkommunikation & Fokus auf Tools:

Digitalisierung wird primär als „Toolfrage“ diskutiert, nicht als notwendiger strategischer Hebel für Mandatsqualität, Effizienz oder Wettbewerbsdifferenzierung. Statt zu fragen: „Wie können wir unsere Kernprozesse fundamental verbessern und Mandanten besser bedienen?“, lautet die Frage oft: „Welches KI-Tool sollen wir als Nächstes kaufen?“. Doch dieser Fokus auf Einzelwerkzeuge verkennt, dass Technologie ohne Einbettung in optimierte Prozesse und eine klare Nutzenargumentation oft wirkungslos bleibt. Es braucht keinen weiteren Chatbot oder ein isoliertes Tool zur Vertragsanalyse, sondern eine durchdachte Integration in den anwaltlichen Workflow, die nachweislich Mehrwert schafft.

3. Mangelnde Change-Fähigkeit & Führungsversagen:

Echte Transformation erfordert Veränderung auf allen Ebenen – strukturell, prozessual und kulturell. Das ist für alle Beteiligten schwierig und erfordert bewusste Arbeit am System Kanzlei. Häufig fehlen jedoch klare Rollenmodelle für den digitalen Wandel, angepasste Anreizsysteme und vor allem das sichtbare Engagement und die klare Rückendeckung der Führungsebene. Der Druck kommt nicht selten von Associates, die moderne Werkzeuge fordern, während Partner oft nur ihre Ruhe wollen oder das Thema als optional betrachten. Transformation braucht Mut – nicht nur PowerPoint-Folien. Neue Ansätze werden zwar diskutiert und präsentiert, aber selten mit der nötigen Konsequenz und den erforderlichen Ressourcen umgesetzt. Entscheidungen werden aus Unsicherheit oder mangelndem internen Druck vertagt – ein gefährliches Zögern.

4. Unterschätzte Komplexität & Projektlogik:

Kanzleien neigen dazu, Digitalisierung wie ein klassisches, abgeschlossenes Projekt zu behandeln, das irgendwo in der Organisation abläuft und den eigentlichen Geschäftsbetrieb möglichst wenig stören soll. Abgesehen davon, dass branchenunabhängig die allermeisten Technologie-Projekte scheitern, geht es hier um tiefgreifende Änderungen an Prozessen, Rollenverständnissen und der Art der Zusammenarbeit. Das macht die Sache ungleich schwieriger. Die Einführung von KI erfordert weit mehr als die Auswahl des passenden Sprachmodells und die Lizenzierung einer Software. Sie braucht eine klar definierte und langfristige Herangehensweise für den Einsatz von Daten, signifikante Prozessanpassungen, umfassende Schulungen und eine proaktiv begleitende Governance. Diese Komplexität wird massiv unterschätzt. Man läuft Gefahr, die gleichen Fehler wie in früheren Technologiezyklen (man denke an die Dotcom-Blase) zu wiederholen: erst Hype, dann Tal der Enttäuschung, weil die Grundlagen fehlen und der bloße Einsatz von Technologie niemals automatisch zu besseren Ergebnissen führt.

5. Technologie wird funktional, nicht architektonisch gedacht:

Das wohl größte Defizit liegt in den allermeisten Fällen im technologischen Fundament. Spricht man von IT, wird diese oft immer noch primär als Kostenfaktor und reiner Infrastruktur-Provider (E-Mail, Laptops, VPN-Zugang) gesehen, nicht als strategische Gestaltungsfunktion. Dementsprechend laufen Legal Tech- und KI-Initiativen in fast allen Kanzleien in eigenen Silos, oft ohne feste strategische und operative Verankerung in der bestehenden IT-Landschaft und -Organisation. Dadurch fehlt es an einer durchdachten technologischen Gesamtarchitektur, einer übergreifenden Plattformstrategie, einer konsolidierten Datenhaltung und -bereitstellung sowie einer robusten, modernen Sicherheitsarchitektur. Stattdessen entstehen Insellösungen und ein Wildwuchs an Einzeltools ohne Integration. Die immer noch verbreitete Haltung „Wir sind zu speziell für Standardlösungen und müssen daher selbst entwickeln“ verhindert dabei oft die notwendige Standardisierung, Skalierung und Effizienz, die gerade für den qualitätsgeprüften und wirtschaftlichen Einsatz von KI essenziell wären.

6. Der blinde Fleck im Kanzleimanagement:

Erfolgsmessung. Ein kurzer Realitätscheck: Wie viele Kanzleien in Deutschland sind heute technisch überhaupt in der Lage, die Profitabilität eines Mandats, einer Praxisgruppe oder eines Mandanten valide und automatisiert zu berechnen – unter Einbeziehung aller relevanten Faktoren wie Overheads, IT-Kosten, Personaleinsatz und anteilige Gemeinkosten? Die ehrliche Antwort: kaum eine. Nicht aus mangelndem Willen oder fehlender Intelligenz – sondern weil es schlicht an der notwendigen prozessualen und digitalen Grundausstattung fehlt. Daten liegen – wenn überhaupt vorhanden – verstreut in den verschiedensten Systemen und zentrale Controllingfunktionen sind oft nur rudimentär vorhanden. Was man nicht messen kann, kann man auch nicht effektiv managen. Und genau das ist der blinde Fleck vieler Kanzleiverantwortlicher: Ohne eine integrierte technologische Basis lassen sich weder Effizienz noch Qualität oder Rentabilität zielgerichtet steuern. Wo diese Grundlage fehlt, wird es auch mit den vielen neuen technologischen Möglichkeiten nahezu unmöglich, den nächsten Schritt hin zur vollständig KI-unterstützten Kanzlei zu gehen.

Der KI-Weckruf: Legal Tech war Luxus, KI ist Pflicht – und professionelle Kompetenz ist der Schlüssel

Die Zurückhaltung bei Legal Tech war für viele Kanzleien lange Zeit verschmerzbar. Mit dem Aufkommen immer leistungsfähigerer und für die Branche spezialisierter KI-Systeme hat sich die Lage jedoch komplett verändert. KI ist keine Option mehr, sie ist zunehmend eine Notwendigkeit für die Wettbewerbsfähigkeit. Wer jetzt nicht aktiv und strategisch handelt, verliert zwangsläufig den Anschluss. Die Lücke zu den Vorreitern wird immer größer, und dieser Rückstand lässt sich später auch nicht mehr einfach mit hohem Geldeinsatz aufholen.

Doch auch Kanzleien, die nun aktiv in Technologie investieren, sollten sich kritisch mit ihren Schwächen auseinandersetzen:

Die Fehleinschätzung der eigenen Kompetenz: Die Annahme, man könne einem Anwalt leichter Technologie beibringen als einem IT-Experten Jura, ist weit verbreitet – und grundfalsch. Ein paar Zeilen Code zu schreiben oder die Bedienung mehrerer (KI-)Tools zu beherrschen, macht noch keinen Data Scientist, Cloud-Architekten, IT-Sicherheitsexperten oder erfahrenen Digitalisierungsmanager aus. Es braucht tiefes, professionelles Verständnis für Technologie, Architekturen, Datenmanagement, Prozessoptimierung und Projektsteuerung. Die Fähigkeit, juristische Arbeitsprozesse zu analysieren, zu abstrahieren und nachhaltig in digitale Lösungen zu überführen, fehlt den meisten Juristen, die sich nun als „KI-Experten“ versuchen. Wer glaubt, kanzleiweite Digitalisierungsprojekte nebenbei mit interessierten Associates, die fast schon zwangsläufig noch niemals in einem professionellen Unternehmensumfeld gearbeitet haben, stemmen zu können, ignoriert die Komplexität und die erforderliche Professionalität.

Die Überschätzung der eigenen Ressourcen: Viele Kanzleien, selbst größere Einheiten, überschätzen ihre Fähigkeit, im dynamischen KI-Wettbewerb mitzuhalten – finanziell, personell und technologisch. Der Glaube, mit internen, oft nicht spezialisierten Teams und begrenzten Budgets gegen die enorme Geschwindigkeit des Marktes und hochspezialisierte Technologieanbieter bestehen zu können, ist trügerisch. Selbst Global-Top-100-Kanzleien mit großen internationalen Teams dürften hier an ihre Grenzen stoßen, wenn sie versuchen, alles selbst zu machen.

Marketing statt echter Transformation: Zu oft dienen KI-Initiativen primär der Imagepflege. „Ja, wir machen ganz viel mit Legal Tech“ – diese Aussage diente häufig als Feigenblatt für die eigenen Mitarbeiter und die Kommunikation nach außen. Heute verkündet man KI-Partnerschaften, benennt neue KI-Verantwortliche oder startet KI-Pilotprojekte in einzelnen Praxisgruppen. Dies führt jedoch selten zu einer fundamentalen Änderung der Arbeitsweise oder zumindest der zugrundeliegenden technologischen Basis und Prozesse.

Der Blick über den Atlantik: Professionalisierung als Standard

Ein Blick über den Atlantik zeigt, dass die Erkenntnis über die Notwendigkeit professioneller Strukturen dort bereits vielerorts angekommen ist. Führende US-Kanzleien investieren massiv in den Aufbau professioneller Inhouse-Technologie-, Daten- und Innovationsteams. Sie suchen gezielt nach Experten – Data Scientists, Software-Experten, Prozessmanager, KI-Spezialisten, Legal Engineers – und integrieren diese tief in die Kanzleistruktur, oft auf Managementebene mit entsprechender Autorität, Budget- und Ergebnisverantwortung. Diese Art von Organisationsentwicklung unterstreicht das Verständnis, dass Technologiekompetenz eine Kernressource ist, die man nicht nebenbei mit ohnehin gut ausgelasteten Anwälten aufbaut, sondern gezielt aufbauen und weiter fördern muss. Dieser Vorsprung wird sich weiter vergrößern, wenn Kanzleien hierzulande nicht umdenken.

Dies war Teil 1. Teil 2 des Artikels finden Sie hier.

Autor: Christian Ammer ist mehrfach ausgezeichneter CIO und Co-Autor des „Praxis-Guide für Digital Leader“. Nach Stationen in der Finanzbranche und als CIO und Head of Digitale Transformation bei Noerr hat er 2024 F.ECTIVES gegründet. Gemeinsam mit Christoph Vaagt hilft er Kanzleien, Digitalisierung strategisch zu verankern und mit einem Team aus Legal Engineers auch praktisch umzusetzen. Mehr zu seinem Profil und Kontaktmöglichkeit bei LinkedIn

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