Fachartikel

Generative Künstliche Intelligenz als Teamersatz?

Die Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) in die juristische Praxis ist längst keine Zukunftsvision mehr, sondern Realität – besonders in Bereichen wie Vertragsanalyse, Dokumentenprüfung oder juristische Recherche. Doch ein aktuelles Workingpaper mit dem Titel The Cybernetic Teammate: A Field Experiment on Generative AI Reshaping Teamwork and Expertise von Fabrizio Dell’Acqua und Team eröffnet eine neue Perspektive: Was wäre, wenn KI nicht nur Werkzeug, sondern echter Teamkollege wird und wir sogar ganz neue Teamstrukturen benötigen?

Das Forschungsteam rund um Fabrizio Dell’Acqua untersuchte in einem groß angelegten Feldexperiment mit 776 Professionals bei Procter & Gamble, wie generative KI (wie z. B. GPT-4o) innovative Teamarbeit verändert. Die Ergebnisse sind teilweise überraschend – und für die juristische Arbeit hochrelevant.

KI ersetzt nicht, sie ergänzt – manchmal sogar besser als ein Team

Die Studie zeigt: Einzelpersonen, die mit KI arbeiteten, lieferten Lösungen auf einem Qualitätsniveau, das mit menschlichen Zweierteams ohne KI vergleichbar war. Pointiert gesagt: Eine juristische Fachkraft mit KI könnte vielleicht genauso leistungsfähig sein wie zwei Jurist:innen im Team? Übertroffen wird die Einzelperson mit KI jedoch von Teams, die KI einsetzen.

AI Quality

1. Leistungssteigerung durch KI

Generative KI bringt nachweislich Performance-Vorteile. Im Experiment reichte die Qualität der Ergebnisse einzelner KI-unterstützter Personen an die von Zweier-Teams heran – und das bei insgesamt mehr als 16 % geringerem Zeitaufwand. Auch in der juristischen Praxis wird KI zum Produktivitäts-Booster. Der Einsatz könnte sich jedoch insbesondere für Solo-Rechtsanwält:innen lohnen. Daneben hatten Teams, die KI nutzten, eine ungefähr dreimal so hohe Chance eine der Top 10 % Lösungen zu entwickeln. Der KI-Einsatz in Teams führt also deutlich häufiger zu außerordentlich guten Ergebnissen und hat das Potential, fester Bestandteil jeder Kanzlei-, Unternehmens- und Innovationsstrategie zu werden.

Einen kleinen Rückschlag gilt es jedoch auch zu verzeichnen: die mittels KI erarbeiteten Lösungen hatten eine höhere semantische Ähnlichkeit, was auf den Standardisierungs-Effekt hindeutet, der bei vermehrtem KI-Einsatz (auch) zu einem gesellschaftlichen Problem werden kann.

2. Erweiterung des Fachwissens

Die KI hat im Experiment geholfen, bestehende Wissensgrenzen zu überwinden. Es wurden Fachsilos aufgebrochen – technische Expert:innen dachten kommerzieller, und umgekehrt. Ausgearbeitete Lösungen waren insgesamt auf einem höheren, ausgewogeneren Level. Auf den juristischen Kontext übertragen, könnte die KI als multiperspektivische Assistenz fungieren, die Jurist:innen über ihr Spezialgebiet hinaus handlungsfähig macht. Erneut vielleicht eine Hilfe insbesondere für die breiter aufgestellte Kanzlei oder interdisziplinäre Teams?

3. Soziale Interaktion durch Sprache

Was überrascht: Die KI ersetzt nicht nur funktionale, sondern auch soziale Aspekte der Teamarbeit. Viele Teilnehmende empfanden die Arbeit mit KI als motivierend, befriedigend und sogar inspirierend – ein Effekt, der an die frühen Experimente mit ELIZA erinnert, einem der ersten Chatbots von Weizenbaum aus den 1960er-Jahren, der in der Psychologie eingesetzt wurde und der als „empathisch“ wahrgenommen wurde. Eine „sprachlich soziale“ KI, die verständnisvoll, unterstützend und anregend kommuniziert, kann das Arbeitsklima positiv beeinflussen – und somit über reine Effizienzgewinne hinausgehen.

Daneben wurden sogar die negativen Empfindungen, die teilweise Folge von Teamdynamiken sein können, von den Teammitgliedern deutlich abgeschwächt empfunden. KI kann also sogar einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden in Teams haben.

4. KI-Einsatz führt zur Unterschätzung der Qualität?

Besonders spannend ist folgendes Ergebnis: Insbesondere Individuen, die KI eingesetzt haben, hatten die Selbsteinschätzung, dass die mit KI generierte Lösung eher nicht zu den Top 10 %-Lösungen gehört. Diese Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und objektiver Bewertung zeigt, dass der Einsatz von KI durch Fachexperten scheinbar noch makelbehaftet ist. Aus meiner Sicht ist dies ein Indikator dafür, dieses Bauchgefühl (oder diesen Bias?) objektivieren zu müssen. Dies kann durch weitere Studien und Benchmarks, insbesondere im juristischen Bereich, erreicht werden.

Juristische Teamarbeit neu denken

Die wichtigste Erkenntnis für den Legal-Tech-Kontext: Kanzleien sollten nicht mehr zwischen „Mensch oder Maschine“ entscheiden, sondern überlegen, wie Mensch und Maschine als Team zusammenarbeiten. Der Artikel fordert dazu auf, Teamstrukturen, Rollenzuschreibungen und auch Ausbildungsformate neu zu denken. Junior Associates, die mit einer KI im Tandem arbeiten, könnten schneller eigenständig produktiv werden. Besonders hervorzuheben ist, dass in der Studie vor allem Teams mit KI-Unterstützung nicht nur produktiver waren, sondern auch überproportional viele der besten Ideen entwickelten – gemessen an der Anzahl der Lösungen im obersten Leistungsdezil. Das zeigt: Die Kombination aus menschlicher Zusammenarbeit und KI ist somit nach wie vor der leistungsfähigste Ansatz – und sollte in der juristischen Teamarbeit als strategische Ressource eingesetzt werden.

Ein zusätzlicher Performance-Boost kann durch den gezielten Einsatz von Workflow-Lösungen erzielt werden. Wenn KI nicht nur punktuell, sondern entlang strukturierter Abläufe eingebunden wird, vervielfacht sich ihr Nutzen, kombiniert Effizienz mit Qualitätssicherung und eröffnet so neue Spielräume für strategische juristische Arbeit. Aber auch als Kanzlei selbst gilt es zu überlegen, ob die potenziell einsparbare Zeit von über 16 % bei Individuen und der generelle Performance-Gewinn nicht dazu führen sollte, die billable hour kritisch zu hinterfragen, wie es auch in der aktuellen Future Ready Lawyer Studie von Wolters Kluwer erneut angeklungen ist.

Prompt-Engineering als Skill

Ein Aspekt, der im Paper nur am Rande behandelt wird, aber für die juristische Praxis derzeit noch enorme Bedeutung hat, ist das Prompt-Engineering – also die gezielte Fähigkeit, mit KI-Systemen effektiv zu kommunizieren. Die Teilnehmenden im Experiment erhielten lediglich eine einstündige Basiseinführung in die Nutzung der generativen KI, konnten jedoch auf eine Prompt-Library mit vorgegebenen Prompts zurückgreifen und erzielten so bereits signifikante Leistungssteigerungen. Das Forschungsteam weist allerdings explizit darauf hin, dass bei vertieftem Know-how – etwa durch erfahrene, geschulte Nutzer:innen – ein noch größerer Performance-Boost zu erwarten ist. Für Kanzleien bedeutet das: Wer seine Mitarbeitenden im professionellen Umgang mit KI trainiert, wird langfristig effizienter, kreativer und wettbewerbsfähiger arbeiten und gleichzeitig zufriedenere Mitarbeitende haben.

Fazit: Cybernetic Law Firm?

The Cybernetic Teammate liefert zwar keine direkten Antworten für die juristische Praxis – aber es liefert dringende Denkanstöße. Wenn KI wie ein Teammitglied agieren kann, dann sollten wir auch anfangen, sie so zu behandeln: mit klaren Verantwortlichkeiten, Schnittstellen und Rollen und somit eingebunden in ganz klare Workflows. Wer das ernst nimmt, wird nicht nur effizienter arbeiten – sondern möglicherweise auch bessere juristische Ergebnisse erzielen. In der Kanzlei der Zukunft ist KI kein Tool – sie ist Teil des Teams. Vielleicht gibt das Workingpaper uns aber die Möglichkeit, jetzt schon sagen zu können: „KI wird die Anwält:innen nicht ersetzen, aber Anwält:innen mit KI werden es“ q.e.d.

Autor: Mit über 10 Jahren Erfahrung an der Schnittstelle von Recht und Technologie gestaltet Christian Hartz datengetriebene Legal-Tech-Lösungen – von Natural Language Processing und Wissensgraphen bis hin zu Anwendungen mit Agentic AI. Als Legal Engineer bei Wolters Kluwer arbeitet er an der Entwicklung intelligenter Produkte für die juristische Praxis im internationalen Kontext. Sein Fokus: juristische Arbeitsweisen neu denken – effizienter, smarter, digitaler. Als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln und der Universität des Saarlandes vermittelt er praxisnah, wie Technologie das Recht von morgen verändert.

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