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KI-Agenten: die echte Revolution in der Rechtsbranche?

Die Entwicklung künstlicher Intelligenz schreitet mit beeindruckendem Tempo voran und eine neue Generation von Systemen steht vor der Tür: KI-Agenten. Im Gegensatz zu herkömmlichen Chatbots sind diese Systeme in der Lage eigenständig Entscheidungen zu treffen und Ziele zu verfolgen, statt nur auf vorgegebene Eingaben zu reagieren – eine Entwicklung, die auch für die Rechtsbranche weitreichende Folgen haben könnte.

Was sind KI-Agenten?

KI-Agenten unterscheiden sich fundamental von den bekannten Chatbots wie ChatGPT. Während Chatbots auf kontinuierliche menschliche Anweisungen angewiesen sind, können Agenten selbstständig mit externen Anwendungen interagieren und Aufgaben direkt ausführen. Dies lässt sich an folgendem Beispiel illustrieren. Nehmen wir eine Aufgabe wie das Organisieren einer Geschäftsreise:

Ein Chatbot würde einfach auf spezifische Fragen antworten. Fragt man nach Flügen, gibt er Fluginformationen, fragt man nach Hotels, nennt er Hotels, die bestimmten Kriterien entsprechen. Die einzelnen Schritte müssen jeweils angefragt und die Reise schliesslich selbst koordiniert werden.

Ein KI-Agent würde hingegen eigenständig:

  • Erkennen, dass für eine Geschäftsreise Flug, Hotel, Transport und Terminplanung nötig sind
  • Die optimale Reihenfolge zur Buchung festlegen (erst Flug, dann passendes Hotel in der Nähe des Meetings)
  • Und nun ganz essenziell: die Buchungen selbstständig durchführen
  • Konflikte erkennen und lösen (wenn der günstigste Flug nicht zum Meetingzeitpunkt passt)
  • Zudem einen kompletten Reiseplan vorlegen und bei Bedarf Anpassungen vornehmen

Der Agent arbeitet also zielorientiert und mit Eigeninitiative, während der Chatbot nur reaktiv auf einzelne Anfragen antwortet.

Führende Technologieunternehmen wie Microsoft, Apple, OpenAI, Google DeepMind und Meta sehen in KI-Agenten das nächste grosse Ding. OpenAI baut gemeinsam mit Experten von Firefox und Chrome einen KI-gestützten Browser, Google DeepMind testet mit «Project Mariner» eine KI, die Browser selbstständig bedienen kann, und Anthropic hat mit Claude 3.5 sogenannte GUI-Agenten eingeführt. Das sind KI-Systeme, die darauf trainiert sind, mit grafischen Benutzeroberflächen (GUI von englisch graphical user interface) zu interagieren, so wie es Menschen tun würden. Sie können Mausbewegungen und Klicks simulieren, Texteingabefelder ausfüllen und Informationen aus der Benutzeroberfläche extrahieren.

Potenziale für die Rechtsbranche

Der entscheidende Unterschied liegt bei KI-Agenten also in der Fähigkeit zum autonomen Arbeiten mit komplexen Dokumentstrukturen und der intelligenten Verkettung verschiedener Arbeitsschritte. Während Chatbots lediglich auf direkte Anfragen reagieren können, sind KI-Agenten in der Lage, selbstständig durch verschiedene Dokumente, Gesetzestexte, Urteile und Verträge zu navigieren und relevante Informationen proaktiv zu verknüpfen.

Besonders wertvoll dürfte im Kontext der juristischen Arbeit die Fähigkeit zur Automatisierung ganzer Prozessketten sein. KI-Agenten können beispielsweise von der initialen Dokumentenanalyse bis zur Erstellung von Schriftsätzen komplette Arbeitsabläufe übernehmen und dabei selbstständig entscheiden, welche weiteren Schritte erforderlich sind.

Prozessautomatisierung mit einem KI-Agenten könnte bei einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung wie folgt aussehen:

Nehmen wir den Fall einer missbräuchlichen Kündigung nach Art. 336 OR (Anm.d.Red.: Beispiel aus dem Schweizer Recht). Die KI beginnt mit der Analyse der eingegangenen Dokumente wie dem Kündigungsschreiben, dem Arbeitsvertrag und allfälliger Korrespondenz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das System erkennt automatisch die wesentlichen Elemente wie das Kündigungsdatum und die Kündigungsfrist gemäss Art. 335c OR sowie die vom Arbeitgeber angeführten Gründe.

In der rechtlichen Vorprüfung analysiert der KI-Agent zunächst die formellen Anforderungen wie die Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Kündigungsfristen. Er prüft auch, ob besondere Sperrfristen nach Art. 336c OR vorliegen, etwa wegen Krankheit oder Schwangerschaft. Das System erkennt zudem automatisch, ob die Kündigung während einer Probezeit nach Art. 335b OR erfolgte und welche spezifischen Regelungen dadurch zur Anwendung kommen.

Bei der Sachverhaltsaufbereitung erstellt der KI-Agent eine chronologische Übersicht der relevanten Ereignisse und ordnet diese den rechtlichen Tatbestandsmerkmalen der missbräuchlichen Kündigung zu. Er identifiziert potenzielle Beweismittel wie E-Mail-Korrespondenzen, Zeugenaussagen oder Arbeitszeugnis und bewertet deren Beweiskraft. Gleichzeitig markiert das System Lücken im Sachverhalt.

In der rechtlichen Analyse prüft der KI-Agent die Kündigungsgründe anhand der Tatbestände von Art. 336 OR und gleicht diese mit der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts ab. Er analysiert vergleichbare Fälle und berechnet die Höhe einer möglichen Entschädigung nach Art. 336a OR. Basierend auf dieser umfassenden Analyse generiert das System einen ersten Entwurf des Schlichtungsgesuchs an die zuständige Schlichtungsbehörde nach Art. 197 ZPO.

Während des gesamten Verfahrens überwacht der KI-Agent die relevanten Fristen, insbesondere die 180-Tage-Frist zur Geltendmachung der Missbräuchlichkeit nach Art. 336b OR. Er schlägt prozessuale Strategien vor, etwa ob eine gütliche Einigung anzustreben ist oder der Gang vor das Arbeitsgericht empfohlen wird.

Der Mehrwert dieser Automatisierung liegt in der Verknüpfung der verschiedenen Rechtsgebiete – vom materiellen Arbeitsrecht über das Beweisrecht bis hin zum Prozessrecht. Der KI-Agent erkennt selbstständig, wann bspw. zusätzlich sozialversicherungsrechtliche Aspekte wie Arbeitslosenversicherung oder berufliche Vorsorge zu berücksichtigen sind. Die Anwältin oder der Anwalt behält dabei die Kontrolle über die rechtliche Strategie und die finale Entscheidung, wird aber von der zeitaufwändigen Analyse der Rechtsprechung und der Dokumentenerstellung entlastet.

Diese Prozessautomatisierung ermöglicht eine effizientere Fallbearbeitung bei gleichzeitiger Sicherstellung, dass alle rechtlich relevanten Aspekte systematisch geprüft werden. Die kontinuierliche Aktualisierung der Rechtsprechungsdatenbank gewährleistet zudem, dass auch neue Bundesgerichtsentscheide unmittelbar in die rechtliche Beurteilung einfliessen. Dennoch bleibt die menschliche Expertise des Anwalts unerlässlich, insbesondere bei der Einschätzung der Erfolgschancen und der Entwicklung massgeschneiderter Lösungsvorschläge für den konkreten Einzelfall.

Durch ihre Lernfähigkeit können sich KI-Agenten zudem an spezifische Arbeitsweisen anpassen und kanzleispezifische Best Practices übernehmen. Dies führt zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Effizienz über die Zeit.

Grenzen und Herausforderungen

Für die Rechtsbranche ergeben sich, wie bereits beim bisherigen Einsatz von KI-Tools, spezifische Herausforderungen. Der Umgang mit sensiblen Daten erfordert selbstverständlich hohe Sicherheitsstandards und die Einhaltung von Datenschutzvorschriften. Ganze Prozesse autonom von einer KI ausführen zu lassen, bedarf zudem enormer Rechenpower. Dies kann nicht – zumindest noch nicht – auf einem Gerät verarbeitet werden, sondern erfordert eine Cloud-Verarbeitung. Überdies stellen sich beim Einsatz von KI-Agenten in der Justiz und im juristischen Kontext natürlich auch ethische Fragen. Die ist indessen nicht neu, erhält aber bei KI-Systemen, die nun in der Lage sind, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Ziele zu verfolgen, ein noch höheres Gewicht.

Ausblick

In der Rechtsbranche herrscht immer noch Zurückhaltung beim Einsatz von KI-Tools. Jedoch sind KI-Agenten ein weiteres Signal dafür, dass die technologische Entwicklung mit hoher Geschwindigkeit voranschreitet und sich neue Möglichkeiten erschliessen, die wir Juristinnen und Juristen nicht ignorieren sollten. Mit KI-Agenten erhalten wir Tools, die nicht mehr nur als Auskunftssysteme dienen, sondern als echte Assistenten fungieren, die proaktiv mitdenken und komplexe Aufgaben weitgehend selbstständig bearbeiten können.

Besonders wertvoll für die juristische Arbeit ist dabei das verbesserte Kontextverständnis und ihre Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge über längere Zeiträume zu verfolgen und verschiedene Informationsquellen intelligent zu verknüpfen. Im Gegensatz zu Chatbots können KI-Agenten ganze Arbeitsabläufe steuern und dabei mit verschiedenen Tools und Datenbanken interagieren. Ihre Spezialisierungsmöglichkeiten auf bestimmte juristische Aufgabenbereiche wie Due Diligence, Vertragsanalyse oder Compliance-Prüfungen, machen sie zu wertvollen Werkzeugen in der Rechtspraxis. Durch ihre Lernfähigkeit können sie sich zudem kontinuierlich verbessern und an neue Anforderungen anpassen.

Autor: Ioannis Martinis hat Recht an der Universität Basel studiert und ist heute Head of Innovation & LegalTech sowie Mitglied des Kaders der Coop Rechtsschutz AG. Er ist Gründer des LegalTech Think Tanks Ethorial und Präsident der Digital Minds Society. Ioannis Martinis ist zudem Vizepräsident der Swiss LegalTech Association und Ambassador for Switzerland der European Legal Technology Association. Er doziert an der Universität St. Gallen (HSG) zu Legal Tech & New Law und ist seit 2020 Studiengangsleiter des CAS Legal Tech an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ).

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