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Zweiter KI-Winter in Legal Tech…

Künstliche Intelligenz (KI) in ihrer derzeitigen technischen Umsetzung ist ein komplexes statistisches Verfahren zur Ermittlung von Korrelationen in vielschichtigen und bisher vor allem umfangreichen Datensätzen. So kann für eine ganze Reihe von bspw. Röntgenbildern technisch ermittelt werden, welche Eigenschaften (features) dieser Röntgenbilder mit einer positiven Diagnose korrelieren. Nach derzeitigem Stand ist es häufig so, dass derart ermittelte Korrelationen in einer komplexen mathematischen Formel festgehalten werden. Besonders von sich reden hat in diesem Zusammenhang das künstliche neuronale Netzwerk gemacht (Stichwort „Deep Learning“), das im Kern einen Verbund komplexer mathematischer Formeln verwendet, die der Schichtung neuronaler Netze im menschlichen Gehirn nachempfunden sind und im weitesten Sinne den Prozess menschlicher Assoziation emulieren. Im Rahmen dieser Formeln werden konkrete Werte festgehalten, die für bestimmte Eingabewerte bspw. eine Zuordnung ausgeben können (Klassifikation), einen hypothetischen Wert (Regression) oder generell ein Feld von Werten „sortieren“ können (Clustering).

Die Theorie für solche Modelle existiert bereits seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, konnte jedoch aufgrund ihrer hohen technischen Anforderungen nicht in die Praxis umgesetzt werden. Daraus resultierte der erste KI-Winter in den 70er Jahren, als sich herausstellte, dass der Hype um das Thema den faktischen Ergebnissen (bspw. mangelhafte automatische Übersetzungen) nicht gerecht werden konnte. Erst gegen Ende der 90er Jahre kam die Technologie mit der steigenden Rechenleistung von Computern wieder auf, wenngleich der Begriff „Künstliche Intelligenz“ noch als Buzzword verpönt war. Inzwischen ist sie zu dieser ubiquitären Technologie geworden, die alle möglichen Bereiche unseres Lebens durchdringt, seien es Suchmaschinen, Spracherkennung, Sicherheitssoftware (Fraud Detection, Intrusion Detection), E-Mail-Verarbeitung und viele weitere.

Nun scheinen wir Juristen am Fuße einer weiteren solchen Hype-Kurve angelangt zu sein. Während in den ersten Jahren um Legal Tech recht große Aufbruchsstimmung herrschte und sich seitdem der Titel „Künstliche Intelligenz: Sind Anwälte ersetzbar?“ in den verschiedensten Variationen und Stimmungslagen als Aufmacher für Artikel bis heute hält, ist bisher nicht viel passiert. Sicherlich ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in einigen konkreten Bereichen etabliert (wie bspw. in Kartellrechtsverfahren oder Due Dilligence) und hat in anderen Bereichen Eingang in die tägliche Praxis von Juristen gefunden, wenn auch auf Umwegen, wie durch die Spracherkennung und die verbesserte Texterkennung; Die große und breite Verwendung findet sich aber im juristischen Alltag noch nicht.

Softwarelösungen, die für konkrete Spezialfälle angepasst sind, halten dabei in der Regel durchaus, was sie versprechen – wenn das System zuvor richtig trainiert wurde. So gibt es Tools, die einem das KI-gestützte Durchforsten großer Textmengen nach abstrakten Stichworten oder juristischen Themen erlauben. Manche Tools erlauben zusätzlich noch die Verwendung von komplexen Suchparametern, wie bspw. Juris oder Beck-Online sie anbieten.

Wenn eine Kanzlei also nicht profunde Geschäfte im Bereich Due Dilligence/eDiscovery oder im Immobilienbereich generell vorzuweisen hat, bleiben derzeit wenig Anwendungsfälle für KI, die obendrein noch einen deutlich erhöhten Arbeitsaufwand fordert – meist ohne Garantie, ob die Anwendung Früchte tragen wird.

Daraus resultiert eine gewisse Frustration bei denjenigen Juristen, die diese Technologie bisher ausprobiert haben.

Sprachbarrieren

Neben den rechtlichen Barrieren (wenige Anwendungsfälle für bspw. eDiscovery und Due Dilligence im deutschen Markt) stellt die Verfügbarkeit von entsprechenden Lösungen in der deutschen Sprache ein Problem dar. Legal Tech Lösungen beziehen sich in den allermeisten Fällen zur Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing – NLP) nicht nur formell auf die englische Sprache, sondern auch inhaltlich auf den englischsprachigen Raum, weil sie für den anglo-amerikanischen Markt entwickelt werden. Erst in zweiter Linie wird für die chinesische Sprache entwickelt und erst dann für eine kleine Menge weiterer Sprachen, unter denen auch Deutsch ist. Vortrainierte KI wird es damit in der Regel und auch auf mittlere Frist für die deutsche Sprache und speziell für das deutsche Rechtssystem nicht geben.

Von daher muss sie durch den jeweiligen Anwender trainiert werden, sprich: Der Anwender muss Ressourcen aufbringen, um der künstlichen Intelligenz bereits markierte Beispiele (das Trainingsset) zu präsentieren. Diese verarbeitet das System dann, um der KI das Finden von Korrelationen zu ermöglichen. Diese Korrelationen werden dann nach dem Abschluss des Trainings in den zukünftig zu analysierenden Daten aufgezeigt. Das bedeutet: Der Kunde als bester Sachverständiger seiner Daten muss das maschinenlesbare Trainingsset erstellen, an dem die KI trainiert wird. Da aktuelle Lösungen dies nur innerhalb ihrer jeweiligen – mal mehr, mal weniger komfortablen – Benutzeroberfläche erlauben, geht die investierte Arbeit mit jedem Wechsel des Anbieters verloren.

Positiv stimmen können einen aber zwei Entwicklungen: Zum einen gibt es in der Wissenschaft die Bewegung, die sprachenübergreifende Verarbeitung natürlicher Sprache zugänglicher zu machen. Zum anderen haben viele Dienstleister inzwischen mit sehr interdisziplinären Teams bessere Grundlagen zur Entwicklung adäquater Lösungen für die deutsche Sprache geschaffen.

Interdisziplinarität

Interdisziplinarität ist auch ein bedeutender Faktor für die Anwender solcher Lösungen. Jeder Jurist kennt seine juristischen Themen am besten. Aber wenn es darum geht, Inhalte und Besonderheiten an umsetzende Techniker zu kommunizieren – seien es Dienstleister, Berater oder Kollegen – kommt es auch auf die technischen Kenntnisse an, um wichtige Fragen zu beantworten: Wie kommuniziere ich einem Fachfremden die juristischen Kernpunkte? Worauf kommt es bei der technischen Umsetzung an? Was bedeutet das für die juristischen Themen?

Sicherlich gibt es ab einer gewissen Größe in jeder Kanzlei und Rechtsabteilung hervorragende Juristen, die auch komplexe technische Zusammenhänge schnell erfassen und mit ihnen umgehen können. Aber auf Dauer wird das nicht reichen. Die Arbeit an der Schnittmenge zwischen Jura und Technologie außerhalb von mandatsbezogenen Inhalten wird nicht nur immer komplexer, sie wird auch immer aufwändiger. Kanzleien wären an dieser Stelle schlecht beraten, ihre wertvollen hochspezialisierten Berater in eine Zwitterrolle zu zwingen, in die sie sich erst hineinfinden müssen und für die sie wertvolle Arbeitszeit aufbringen müssen, die in rein juristischer Arbeit viel effektiver investiert wäre. Ein reiner IT-Hintergrund reicht an dieser Stelle ebenfalls nicht, weil der Großteil der kommunikativen Arbeit zwischen Jura-Spezialisten und Technik-Spezialisten wiederum von Seiten der technikversierten Jura-Spezialisten aufgebracht werden müsste.

Ab einer gewissen Komplexität von Mandaten führt daher kein Weg daran vorbei, Experten (Legal Engineers) einzustellen oder auszubilden, die sich auf genau diese Schnittstelle konzentrieren. In der Folge ist dann die Reibung in der Kommunikation minimal, die Jura-Spezialisten verlieren nur ein Minimum an Zeit in technikbezogenen Themen. Auf der anderen Seite ist der Betrieb frei in der Wahl von Anbietern und Produkten, weil eine weitgehend lückenlose Kommunikation mit Technik-Spezialisten, unabhängig von deren juristischen Kenntnissen oder Erfahrungen, durch den Legal Engineer gewährleistet ist. Hinzu kommt, dass derartige Schnittstellen in juristischen Angelegenheiten, für die sich die Berater mit komplexen Technologien befassen müssen, ebenfalls entstehen – nur bisher nicht bedient werden. Als Spezialist für die Kommunikation zwischen Technik- und Jura-Spezialisten ist es Kernkompetenz eines Legal Engineers, komplexe Zusammenhänge beider Themenbereiche für die Spezialisten der jeweils anderen Themenbereiche verständlich aufzubereiten und mögliche Wechselwirkungen zielsicher zu identifizieren.

Vorteile und tatsächliche Bedeutung

Die Stärke künstlicher Intelligenz liegt in der schnellen Erfassung und Einordnung großer Mengen von Inhalten – da es sich um ein mathematisches Verfahren handelt – besonders in Bezug auf Zusammenhänge, die leicht in Zahlen auszudrücken sind. Die Schwäche dieses Verfahrens liegt darin, dass schwer in Zahlen auszudrückende Inhalte zunächst in solche umzuwandeln sind und hier bereits viel Information verloren gehen kann. Eine weitere Schwäche ist die Tatsache, dass man genau die Informationen, die man aus einem Data Set zu extrahieren wünscht, zunächst in ausreichend großer Menge besitzen muss, um eine KI zu trainieren.

Wer mit einer KI hunderte von Mietverträgen auf bestimmte Klauseln untersuchen möchte, muss zunächst über ausreichend viele Beispielverträge dieser Art, in denen die entsprechenden Klauseln auch maschinenlesbar markiert sind, besitzen, um besagter KI beizubringen, wonach sie suchen soll. Da Entwickler und Dienstleister häufig Schwierigkeiten haben werden, an eine ausreichende Menge von realistischen Daten zu gelangen, wie bspw. Mietverträgen oder Verschwiegenheitsvereinbarungen, können sie nur in seltenen Fällen vortrainierte Lösungen anbieten. Kanzleien und Rechtsabteilungen hingegen haben große Datenmengen zu ihrer Verfügung, können aber nicht die notwendigen technischen Ressourcen aufbringen, während zugleich für eine Kooperation mit Technikspezialisten häufig jede Grundlagen fehlt. Bereits jetzt bringen Kanzleien wie auch Rechtsabteilungen mit langsam wachsender Tendenz Ressourcen auf, um diese Expertise bei sich aufzubauen, während Dienstleister neben technischer und juristischer, zunehmend auch auf sprachwissenschaftliche Expertise setzen (leider nach wie vor viel zu selten auf professionelle Designer). In der Folge erkennen immer mehr Juristen Einsatzmöglichkeiten für künstliche Intelligenzen, während Dienstleister zunehmend Lösungen anbieten können, die bei gleichzeitig geringerem Trainingsaufwand immer treffsicherer werden.

Kanzleien und Rechtsabteilungen, die über die notwendigen Ressourcen verfügen, werden den Umfang handhabbarer Mandate definieren, sowohl auf aktiver als auch auf passiver Seite. Genau wie es im anglo-amerikanischen Recht im Bereich Due Dilligence Rechtsprechung zu den Aufgaben und Pflichten der Parteien auf technischer Ebene gibt, werden sich auch in Deutschland auf Dauer Verfahren entwickeln, wie mit Mandaten umzugehen ist, jedoch werden diese aufgrund der derzeit geringen Anzahl an Use Cases und dem recht langsamen Wachstum der Sparte noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Bis dahin sind es die Vorreiter, die bestimmen, was machbar ist und woran sich die übrigen messen lassen müssen.

Autorin: Galina Mayr ist Juristin und verfügt über langjährige Projekterfahrung bei der Umsetzung von IT Projekten in Kanzleien. Bei Noerr verantwortet sie den Bereich Legal Tech und Knowledge Management. Sie befasst sich mit der praktischen Umsetzung von Legal Tech Lösungen und weiteren Digitalisierungsvorhaben der Kanzlei.

Autor: Nuri Khadem-Al-Charieh ist Legal Engineer bei Noerr, Lehrbeauftragter an der HU-Berlin und Rechtsanwalt.

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