Fachartikel

Prêt-à-Porter oder doch Haute Couture?

Legal Tech wurde bereits mehrfach als Querschnittsmaterie oder multidisziplinäres Themenfeld besprochen. Der Zauber von Legal Tech wirkt zweifellos dort, wo mehr als nur eine Disziplin bemüht wird. Dies gilt nicht nur für den Kreationsprozess von neuartigen technologischen Lösungen – also auf Developmentseite, sondern muss genauso für die Rezipient:innenseite gefordert werden. Warum das so ist, und wie soziologische Methoden Sie vor falschen Entscheidungen bewahren können, erfahren Sie, wenn Sie weiterlesen.

Die Anwaltei preist ihre Leistungen durchaus gerne mit der Bezeichnung „maßgeschneidert“ an. Zumeist handelt es sich dann zwar doch eher um Prêt-à-Porter – also Ware von der Stange, die – wählt man die geeignete Größe – ihren Zweck tadellos erfüllen kann; weitaus seltener trifft man auf echte juristische Haute Couture. Die Unterschiede zwischen den beiden, die Vorzüge wie auch die Nachteile, sollte man sich auch bei Legal Tech Lösungen bewusst machen, bevor man auf Einkaufstour geht. Denn auch die schöne neue Tech Welt lockt nicht minder versiert als Chanel oder Dior mit glamourösen Versprechen: Was der handbestickte Stoff der Haute Couture, ist der Legal Tech Branche die von Artificial Intelligence befeuerte Vollautomatisierung. Man möge beiden die Obsession für ihr Produkt verzeihen, aber die Kund:innen sind da wie dort gut beraten, sich nicht allzu sehr vom Marketing-Feuerwerk beeindrucken zu lassen.

Prozessanalyse und Selbsterkenntnis

Als Anti-Fancyness-Imprägnierung gegen Fehlkäufe und Enttäuschungen bieten sich sozialwissenschaftliche Methoden an. Denn was nützt das schönste High Tech-Tool, wenn es irgendwie nicht so ganz zum eigenen Stil und zur kanzleiinternen Garderobe passen will? Es würde ein trostloses Dasein im virtuellen Kanzleischrank fristen, bis es nicht mal mehr als Retro-Nostalgiestück taugt.
Es ist nicht verboten, im breiten Legal Tech-Produktportfolio zu stöbern und sich Anregungen für die eigene Praxis zu holen. Aber lösen Sie sich unbedingt wieder bewusst vom Warentisch. Denn bevor man zum Kauf schreitet, sollte gründlich Maß genommen werden. Ihr Maßband ist die Prozessanalyse.
Lernen Sie sich, Ihr Team und Ihre Prozesse sorgfältig kennen. Achten Sie darauf, genau zu verstehen, wie Ihre Kanzlei beschaffen ist, wie einzelne Schritte ineinandergreifen und weshalb. Sammeln Sie Erkenntnisse, indem Sie die richtigen Fragen stellen: Was tun Sie und wie tun Sie es? Wer ist involviert und welche Ziele oder Ergebnisse möchte man erreichen? Es geht also darum, die richtigen Fragen zu stellen, damit man nicht mit dem sprichwörtlichen Hammer auf die Suche nach Nägeln geht. Oder mit Nadeln nach Nähgarn fahndet.

Mit „Wie?“ zu anschlussfähigen Lösungen

In den Sozialwissenschaften würde man auch von „dichten Beschreibungen“ sprechen, wenn man sehr detaillierte Vorstellungen über einen Forschungsgegenstand entwickeln möchte. Leitend ist dabei oft auch die Frage nach dem „Wie“: Wie funktioniert etwas? Wie ist etwas beschaffen? Das Großartige an diesem Fragewort ist, dass es zum Erzählen und Beschreiben einlädt. Und das ist genau jene Haltung, die man für eine gründliche Analyse der Ist-Situation braucht. Identifizieren Sie Verbesserungspotenziale, indem Sie nach sperrigen Abläufen oder besonders kleinteiligen und wiederkehrenden Prozessen Ausschau halten.
Wir müssen uns unsere Prozesse genau ansehen, damit wir Lösungen einführen oder sogar entwickeln, die anschlussfähig sind. Anschlussfähig ist das, was zu uns passt: Zu unseren Prozessen, realen Problemen und auch zu unseren Ressourcen und unserem Budget. Das tollste Tool hilft nichts, wenn es nicht den eigenen Bedarf deckt, für die Nutzung die Prozesse über Gebühr angepasst werden müssten oder unser Budget sprengt. Ein Frack ist ein großartiges Kleidungsstück, nur eben nicht für jeden Anlass!

Ein Forschungsdesign bringt Struktur

Sie sollten die Prozessanalyse wie ein kleines wissenschaftliches Projekt angehen und ein Forschungsdesign entwerfen:

  1. Wahl des Forschungs-Teams: Achten Sie auf Kompetenzmix und Diversität. Ziehen Sie auch Team-Neulinge und externe Expert:innen in Betracht.
  2. Auswahl des Prozesses: Definieren Sie Ihren Forschungsgegenstand, welchen Sie im Detail analysieren möchten.
  3. Wahl der Methoden & Datenerhebung: Überlegen Sie, wie Sie Ihre Daten erheben möchten. Offene oder Leitfaden-gestützte Interviews, teilnehmende Beobachtung oder Fokusgruppen sind geeignet.
  4. Auswertung & Aufbereitung: Beschreiben Sie datenbasiert die Abläufe und notieren Sie Schlussfolgerungen.

Trennen Sie die Analysephase konsequent von der Suche nach Lösungen! Diese sollte jedenfalls nachgelagert stattfinden. Vermeiden Sie eine Vermischung dieser Felder, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen (Sie wissen schon, Stichwort „Nadel sucht Faden“). In der Prozessanalyse geht es darum, besser oder überhaupt erst zu verstehen, wie Prozesse gestaltet sind. Um dann diese Prozesse neu zu gestalten. Es geht um Neumodellierung und nicht um eine 1:1-Kopie der analogen Abläufe in die digitale Welt.

Von der Stange oder doch maßgeschneidert?

Erst nachdem Sie alle Komponenten Ihres Systems kennengelernt, die strukturelle Beschaffenheit erforscht und so den Ist-Zustand erhoben haben, sollten Sie sich der Frage nach der geeigneten (Legal Tech) Lösung widmen. Vielleicht ist Ihnen mit einer klugen analogen Umgestaltung der eigenen Prozesse mehr geholfen als mit der Einführung oder Entwicklung einer neuen Technologie. Auch das kann ein valides Ergebnis der Analyse sein.

Sollte eine technische Lösung gefragt sein, so sollten Sie folgende Überlegungen anstellen: Handelt es sich um ein „Standard-Problem“, für welches es bereits passende Angebote gibt oder soll eine neue Software entwickelt werden? Für Ersteres können Sie nun in einschlägigen Legal Tech-Verzeichnissen auf die Suche gehen. Ziehen Sie aber auch Software aus dem klassischen Office-Repertoire in Betracht, denn hier gibt es bereits zahlreiche Lösungen, die Ihnen die Arbeit erleichtern können. Vielleicht ist die gesuchte Lösung bereits auf Ihrem PC installiert und muss nur entsprechend genutzt werden (auch kreative Zweck-Entfremdungen der Office-Suite sind erlaubt).

Haute Couture wiederum ist kostenintensiv und zeit- bzw ressourcenaufwändig. Und vergessen Sie auch nicht auf den laufenden Wartungsaufwand: Wie ein gutes Kleidungsstück, muss auch Software regelmäßig gepflegt und mit Updates versorgt werden. Dafür passt sie dann auch perfekt. Allerdings nur, wenn Sie das Maßnehmen sorgfältig und selbstkritisch durchgeführt haben. Nur, wenn Sie wirklich begeisterter Ballgänger sind, macht ein eigener maßgeschneiderter Frack Sinn. Anderen sei die günstigere Lösung von der Stange oder die elegante Zwischenlösung ans Herz gelegt: Lassen Sie bestehende Legal Tech Software auf Ihren Use Case zuschneiden. Viele Legal Techs bieten auch Individualisierungspakete an oder stehen kooperativen Pilotprojekten offen gegenüber.

Autorin: Dr Veronika Haberler MAS, MLS beschäftigt sich mit Innovation und Digitalisierung in der Rechtsbranche. Sie ist CEO und Co-Gründerin des Legal Tech-Unternehmens LeReTo, das innovative juristische Recherche- und Workflow-Lösungen entwickelt. Ihr Engagement an der Schnittstelle von Juristerei, IT und empirischer Innovationsforschung wurde bereits beim Open Minds Award, Women of Legal Tech und Digital Female Leaders Award gewürdigt. Mit über 10 Jahren Branchen-Erfahrung weiß die promovierte Soziologin um die besonderen Herausforderungen von multidisziplinären Projekten im Umfeld von Rechtsberatung und Justiz.

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