Open Source Legal Technology – Was Legal Tech von der Open Source Bewegung lernen kann
„Und wie willst du damit Geld verdienen?“ „Wieso stellt ihr eure ganze Arbeit frei ins Internet?“ Seit etwa einem Jahr wird jeder Erzählung über meine Aktivitäten neben dem Studium mit diesen Fragen begegnet. Gemeinsam mit mittlerweile über zwanzig Mitstreiterinnen und Mitstreitern arbeite ich an Open Decision, einem Open Source Tool zur Dokumenten- und Entscheidungsautomatisierung. Lange konnte ich nicht erklären, warum die Software Open Source entwickelt und betrieben werden muss. Es war eher ein Gefühl, was uns vor knapp zwei Jahren in der Humboldt Consumer Law Clinic dazu bewogen hat, vorhandene proprietäre (also „Closed Source“) Software für unser Projekt abzulehnen und unsere eigene Open Source Software zu entwickeln. Ziel des Projekts war – und ist – die Aufstellung einer automatisierten Verbraucherberatungsplattform. Mittlerweile organisieren wir die Verwirklichung von Open Decision und der Verbraucherberatungsplattform im Rahmen von Open Legal Tech, einem eigens dafür geschaffenen Verein.
Auch das Gefühl, dass die deutsche Legal Tech Szene von den Ideen hinter Open Source und dem Free Software Movement profitieren würde, kann ich mittlerweile besser artikulieren. Der vorliegende Beitrag ist ein erster Schritt, dieses Gefühl rational zu untermauern und nach außen zu transportieren.
Der Begriff Open Source Software kam erstmals im Rahmen des von Richard Stallmann begründeten Free Software Movement auf. Diese Bewegung fördert die Entwicklung freier und quelloffener Software. Freie Software ist Software, die Nutzerinnen und Nutzern die Freiheit gibt, die Software nach Belieben zu betreiben (run), zu studieren (study) und zu ändern (change).
Free bedeutet nicht umsonst
Free Software bedeutet nicht, dass die Software kostenlos ist. Vielmehr bezieht sich „free“ auf die Freiheit der Nutzer, mit der Software so zu verfahren, wie es ihnen beliebt – also der vollständigen Kontrolle über die gekaufte Software. Richard Stallmann spricht von „free speech, not free beer“.
Unter anderem, um diesem Missverständnis vorzubeugen, hat sich der deskriptivere Begriff Open Source Software (OSS) etabliert. Open Source bedeutet offener Quell(code) der Software, also dass der der Software zugrundeliegende Code für jedermann frei einsehbar, kopierbar und editierbar ist. Dies wird mittels einer von vielen mehr oder weniger offenen Lizenzen verwirklicht. Auch wenn sich einzelne Personen im Free Software Movement oder der seit 1998 existierenden Open Source Initiative über die Einzelheiten der Bedeutung streiten, wird die Bewegung treffend als “free and open Source Software” (FOSS) zusammengefasst.
Bei der Softwareentwicklung ist ein Rückgriff auf Open Source Software nicht mehr wegzudenken. Allein schon, weil viele Programmiersprachen und Programmbibliotheken Open Source entwickelt werden. Die Verbreitung des Internets wäre ohne quelloffene Webserver wohl nicht in diesem Umfang passiert. Aber auch viele populäre Endprodukte haben einen frei einsehbaren Quellcode: Mozilla Firefox, Mozilla Thunderbird, das Betriebssystem Linux oder das von Google entwickelte Betriebssystem Android, welches auf 75% aller Mobilgeräte installiert ist.
Warum teilen Entwicklerinnen und Entwickler freiwillig ihre Arbeitsergebnisse? Aus bloßen Altruismus? Oder stehen auch unternehmerische Motive dahinter?
Open Source vs. „Closed Source“
Bei der Entwicklung proprietärer Software ist ein fest definiertes Team für die Entwicklung zuständig, eingebettet in die Hierarchie eines Unternehmens. Nur das Unternehmen darf auf den zugrundeliegenden Code zugreifen, den Kunden werden nur eingeschränkte Rechte an der Software eingeräumt. Um zu gewährleisten, dass Nutzerinnen und Nutzer die Software nicht entgegen der Lizenzbedingungen verwenden, wird proprietäre Software erheblich gesichert: Durch Verschlüsselung, Kontrollmechanismen oder indem die Software von vorneherein nur auf den Servern der Anbieter läuft.
Proprietäre Software steht und fällt somit mit dem Unternehmen. Doch Unternehmen kommen und gehen. Insbesondere in jungen Märkten wie dem Legal Tech Bereich kann niemand vorhersehen, welche Unternehmen in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren noch am Markt sind. Verschwindet ein Anbieter proprietärer Software vom Markt, hat das einschneidende Folgen für die Nutzerinnen und Nutzer der Software. Im besten Fall kann die auf dem Computer installierte Software noch ein paar Jahre weiter benutzt werden. Support und Updates fallen aber weg. Im schlimmsten Fall ist die Software gar nicht mehr auf den Computern der Nutzerinnen und Nutzer installiert, sondern läuft zumindest teilweise auf den Servern der Anbieter. Sobald die Server abgeschaltet werden, ist die Software nicht mehr nutzbar.
Je nach Art der Software, kann eine betroffene Kanzlei den Anbieter ohne große Probleme wechseln. Doch insbesondere bei Infrastruktur-Software und Software, mit der eigene Inhalte erstellt werden können, wird der Wechsel sehr schmerzhaft. Unter Umständen verliert die Kanzlei sämtliche Arbeitsergebnisse, welche sie über die Jahre getätigt hat. Eine Kanzlei, die zahlreiche Prozesse über die Jahre mit einer Software digitalisiert hat, kann so von einem auf den anderen Tag wieder ins letzte Jahrhundert katapultiert werden. Die erstellten Daten sind an die Software und den Anbieter gebunden, man spricht von einem Lock-In.
Und dieser Lock-In-Effekt macht sich nicht nur bei Verschwinden des Anbieters bemerkbar. Sobald eine Kanzlei spezifische Investitionen in eine Software getätigt hat, ist sie vom Anbieter abhängig. Werden die Lizenzgebühren erhöht oder wird die Software durch fragwürdige Updates verschlimmbessert, steht die Kanzlei immer vor der Wahl: Den Anbieter wechseln, aber alle Investitionen aufgeben, oder das Diktat des Anbieters ertragen.
Eben dies hat uns dazu bewogen, vor knapp zwei Jahren mit der Entwicklung von dem zu beginnen, was heute Open Decision ist. Als Law Clinic wollten wir durch Erstellung von Dialog-Anwendungen unsere Prozesse optimieren. Wir wollten einen erheblichen Teil unserer Arbeit digitalisieren. Doch unsere Arbeitsergebnisse über Jahre hinweg den Gefahren eines derartigen Lock-In auszusetzen, kam für uns nicht in Frage. Auch wenn die Software einiger Anbieter von ihrer Funktionalität grundsätzlich für unser Vorhaben geeignet war, stand der Lock-In-Effekt einer breiten Nutzung im Wege. Die Law Clinic arbeitet deshalb bis heute größtenteils analog.
Teilweise beheben kann dies eine mit dem Open Source Gedanken verwandte Idee: die Einführung offener Standards. Microsoft Word ist ein typisches Beispiel von proprietärer Software. Zur Nutzung muss eine Lizenz erworben werden. Das installierte Programm erkennt, wenn die Lizenz abgelaufen ist und sperrt den Zugang. Doch das bedeutet nicht, dass die mit Microsoft Word erstellten Dokumente nun unbrauchbar sind. Diese können von fast allen anderen ähnlichen Programmen gelesen und bearbeitet werden, ob OpenOffice, LibreOffice oder Google Docs. Das liegt daran, dass die Word-Dokumente in einem offenen Datenformat auf dem Computer des Nutzers gespeichert werden. So ist ein Wechsel des Anbieters jederzeit möglich.
Gibt es keine Anbieter, die eine kompatible Software anbieten, ist die Einführung eines offenen Datenformates allerdings nicht hilfreich. In einem jungen Markt wie dem Legal Tech Sektor sind derzeit wohl keine Tools so ähnlich, als dass das eine Tool mit den Daten eines anderen Tools etwas anfangen kann. Dies bedarf erheblicher Abstimmung zwischen den Entwicklerteams und passiert in der Regel nur schrittweise, wenn sich ein Softwaretypus – etwa Textverarbeitungsprogramme wie Microsoft Word – als absoluter Standard durchgesetzt haben. Hier beißt sich die Ratte in den Schwanz. Um sich als Standard durchzusetzen, muss eine Software flächendeckend über einen langen Zeitraum genutzt werden. Eben diesem steht der Lock-In der Daten aber im Wege, indem er das Vertrauen in die Software erheblich schmälert.
Der Lock-In der Daten kann vom Anbieter selbst verhindert werden, indem er die zum Gebrauch erforderliche Software dauerhaft verfügbar macht. Im Falle von Automatisierungs-Tools wie Open Decision gehört dazu sowohl die freie Editierbarkeit der Anwendungen durch den Ersteller, als auch die Ausführbarkeit der erstellten Anwendungen. Der wohl unkomplizierteste und nachhaltigste Weg, die
zum Gebrauch erforderliche Software langfristig verfügbar zu machen, ist sie Open Source zu entwickeln.
Warum wir Open Source Legal Tech brauchen
Auch über die Verhinderung eines Lock-In hinaus bringt Open Source Software insbesondere im Legal Tech Bereich zahlreiche Vorteile mit sich.
Eine Kernidee von Open Source ist, die Softwareentwicklung von einem konkreten Entwicklerteam unabhängig zu machen. Im Idealfall bildet sich um ein Open Source Projekt eine aktive Community, welche die Software überprüft, verbessert und im jeweils eigenen Interesse weiterentwickelt. Die Community kann das Projekt so weit über den Horizont der ursprünglichen Entwickler hinaus entwickeln.
Der Code der Software wird so von weitaus mehr Entwicklerinnen und Entwicklern gesehen, als dies bei einer proprietären Entwicklung der Fall wäre. Alle Entwickler verwenden die Software für ihre Zwecke, haben also auch ein Interesse daran, Fehler zu finden und zu beheben. Dieser „Peer Review“- Effekt führt zu einer deutlich sicheren Software, als es die Entwicklung durch ein kleines Entwicklerteam täte.
Offener Quellcode schafft Transparenz: Man kann genau untersuchen, was man bekommt. Insbesondere im Legal Tech Bereich, wo Software(-infrastruktur) für Kanzleien und Gerichte entwickelt wird, ist dies von besonderer Bedeutung. Wo und wie (Mandanten-)Daten gespeichert werden, wann und welche Daten über die Nutzung der Software abgegriffen werden, lässt sich bei proprietärer Software wenig bis gar nicht feststellen. Open Source Software ist dagegen ein offenes Buch. Keine Kanzlei würde in Büroräume ziehen, in denen die Hälfte der Türen abgeschlossen sind, Kameras an den verschiedensten Stellen verteilt sind und nicht herauszufinden ist, wer was wann wie beobachtet oder mithört. Ein ähnliches Bewusstsein für Integrität fehlt häufig in Bezug auf Softwareinfrastruktur.
Open Source Software schafft ein gemeinsames Fundament, auf dem jeder Entwickler aufbauen kann. Es erhöht somit das Innovationspotential, indem es die Entwicklungskosten für neue Software senkt. Außerdem ist die Software beliebig anpassbar, während proprietäre Software als Black-Box nur vom Anbieter selbst geändert werden kann.
Bedenken in Bezug auf Open Source Software
Wie halten sich Open Source Projekte über längere Zeit, wenn das Produkt frei nutzbar ist? Einige Open Source Projekte, insbesondere solche, deren Software als Bausteine in anderen Programmen dient, halten sich allein durch eine aktive Community. Doch insbesondere Open Source Endprodukte werden oft durch ein nachhaltiges Geschäftsmodell erhalten.
Auch wenn der Verkauf von Lizenzen als Geschäftsmodell wegfällt, schließt Open Source Geld verdienen nicht aus. Es gibt im Gegenteil zahlreiche nachhaltige Geschäftsmodelle um Open Source Software. Ein paar Beispiele: Ist die ganze Software frei verfügbar, lässt sich durch professionellen Service oder das Bereitstellen einer Infrastruktur ein marktgängiger Mehrwert schaffen. Oft werden auch nur Teile der Software Open Source entwickelt und ein darauf aufbauendes proprietäres Produkt verkauft. Auch durch freiwillige Spenden oder das Anbieten einer optionalen lizensierten Version lassen sich Open Source Projekte finanzieren.
Dennoch gibt es bislang nur vereinzelt Open Source Legal Tech Tools. Und oft wird die Nutzung von Open Source Alternativen von potentiellen nicht-techie Nutzern entweder gar nicht in Betracht gezogen oder als zu unsicher empfunden. Dies spiegelt die beiden großen Probleme von Open Source Software.
Open Source Entwicklungen verfügen über keine Marketingabteilung. Da Open Source Entwicklungen zu einem Großteil vom Eigennutz der Entwicklerinnen und Entwickler getragen werden, welche die Software für ihre Zwecke überprüfen und anpassen, bleiben uneigennützige Aspekte wie Marketing in der Regel auf der Strecke. Es ist oft für keine Einzelperson von Nutzen, mit einer großen und teuren Marketing-Kampagne weitere potenzielle Nutzerinnen und Nutzer zu erreichen. Auch wenn die Verbreitung von Open Source Software innerhalb der Entwickler-Community durch Foren, Kongresse und Plattformen wie GitHub gut und vor allem demokratisch funktioniert, ist die Verbreitung nach außen immer von einem gemeinnützigen Akteur abhängig. Bekanntestes Beispiel ist hier die Mozilla Foundation.
Da Open Source Entwicklungen von der Community entwickelt werden, lassen sie sich oft nicht mehr einem Verantwortlichen zuordnen. Aus Nutzerperspektive gibt es keinen Ansprechpartner, der bei Fragen und Problemen weiterhelfen kann. Die Community nimmt diesen Job zwar oft besser wahr als so mancher kommerzieller Anbieter, für die meisten Nicht-Techies ist der Gedanke allerdings fremd, Fragen und Probleme als Issue auf GitHub oder im Slack-Channel zu veröffentlichen.
Um diesen Problemen für den Legal Tech Sektor zu begegnen, haben wir Open Legal Tech gegründet. Wir wollen als vermittelnde Instanz die Open Source und Open Content Idee in den Rechtsmarkt transportieren und den Akteuren die Scheu vor Open Source Software nehmen. Derzeit tragen wir die Entwicklung und Verbreitung von Open Decision und die Entwicklung einer gemeinnützigen Verbraucherberatungsplattform.
Wir wollen Open Source fit machen für Legal Tech – und Legal Tech fit für Open Source. Dabei geht es nicht darum, das alle Legal Tech Unternehmen heute noch ihren Quellcode veröffentlichen. Es muss nicht alles Open Source sein. Doch ist ein Bewusstsein für die Gefahren proprietärer Software und die Möglichkeiten von Open Source Software dringend erforderlich. Wir waren vor zwei Jahren selbst in der Situation, in der wir die Digitalisierung der Prozesse unserer Law Clinic aufgrund fehlenden Vertrauens in die bestehenden Legal Tech Tools ablehnen mussten. Dieses fehlende Vertrauen ist ein Grund für die oft beschworenen Zweifel, welche die Verbreitung von Legal Tech bremst. Die Öffnung des Quellcodes ist ein guter erster Schritt, um dieses Vertrauen zu gewinnen.
Autor: Aaron Rothmann studiert im siebten Semester Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und lebt derzeit nach erfolgreichem Abschluss seines Schwerpunktstudiums für ein halbes Jahr in Rom, um sich der Entwicklung von Open Decision und dem Aufbau von Open Legal Tech zu widmen. Im Frühjahr wird er seine Examensvorbereitung beginnen. Er arbeitet am Lehrstuhl von Prof.in Dr. Heike Schweitzer und engagierte sich lange als Coach und bis zuletzt als Vorstand des Humboldt Moot Club e. V. für Moot Courts an der Humboldt Universität zu Berlin.