Legal Tech in Rechtsabteilungen: Warum es misslingt und wie es gelingt
Für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist die Sache eindeutig: 50% der Tätigkeiten von Juristinnen und Juristen in Unternehmen sind automatisierbar. Legal Tech macht es möglich. Behaupten die einen – belächeln die anderen. Standardisierung, Digitalisierung und Automatisierung funktionieren in wenigen und scheitern in vielen Rechtsabteilungen. „Wieso, weshalb, warum?“ erläutert dieser provokative Beitrag.
1) Warum Legal Tech in Rechtsabteilungen misslingt
Kein Plan?
Welche Tätigkeiten von Unternehmensjuristen kann Legal Tech vereinfachen, beschleunigen und verbessern? Wir wissen es nicht. Wir zerlegen die Projekte, Verfahren und Fälle, die wir beraten, nicht in die kleinste auszuführende Tätigkeit, um zu verstehen, was wir wie machen. Legal Tech kann nicht die juristische Beratung des Vergabeverfahrens A, der Akquisition B, der Gesellschaftsgründung C, des Insolvenzverfahrens D, des Schiedsverfahrens E oder des Einkaufsvertrages D „beraten“. Das können nur Syndikus- und Rechtsanwälte. Aber Legal Tech kann einzelne (und sogar viele!) Tätigkeiten dieser Projekte unterstützen oder von den Syndizi übernehmen. Wenn wir nicht dokumentieren, welche konkreten juristischen Tätigkeiten wir in unserem Arbeitsalltag erledigen, werden wir Legal Tech niemals zur Arbeitserleichterung einsetzen können.
Keine Zeit?
Wir Unternehmensjurist:innen haben zu viele Tätigkeiten und zu wenig Zeit. Für Legal Tech haben Rechtsabteilungen Zeit, wenn sie sich dafür Zeit nehmen. Wenn Sie als Leiterin oder Leiter einer Rechtsabteilung selbst keine Zeit investieren, um sich mit den Möglichkeiten und Grenzen von Legal Tech in ihrem Aufgaben- und Verantwortungsbereich intensiv auseinanderzusetzen, dann gelingt es natürlich nicht. Von nichts kommt nichts. Wenn das Unternehmen, für das Sie tätig sind, sich wenig bis gar nicht mit der digitalen Transformation auseinandersetzt, ist das vielleicht ein Grund, aber sicherlich keine Entschuldigung für das Nichtstun. Die digitale Transformation ist ein Faktum. Wir leben im Internetzeitalter. Die technischen Möglichkeiten existieren hier und heute, ob es Unternehmensjurist:innen wissen und wollen oder nicht.
Kein Budget?
Rechtsabteilungen nutzen kein Legal Tech, weil angeblich kein Budget für entsprechende Investitionen vorhanden ist. Und weil das so ist, investieren Rechtsabteilungen auch keine Zeit in Legal Tech. Ein Zirkelschluss sondergleichen, oder? Wie viel kostet denn „das Recht“ jährlich ihrem Unternehmen? Die meisten Rechtsabteilungsleiter:innen können diese Frage nicht beantworten. Die Kosten der eigenen Rechtsabteilungen sind meistens zwar bekannt. Aber die Kosten für externe Rechtsberater sind häufig unbekannt? Selbst wenn das Geld locker sitzt, wird nicht in Legal Tech investiert. Denn die unternehmensinternen Einkaufsprozesse kennen nur Legal Services, aber kein Legal Tech. Es ist in vielen Unternehmen aufgrund der internen Richtlinien und Prozesse aufwendig oder nahezu unmöglich, dass Legal Techs anstelle von klassischen (Rechts-) Beratern zu beauftragen.
Keine Ahnung?
Wir Juristen unterschätzen die technischen Möglichkeiten. Wenn der durchschnittliche Nutzer nur 5% der Handy-Funktionen versteht und nutzt, dann versteht und nutzt der durchschnittliche Unternehmensjurist auch nur 5% der Technologie, die heute schon im Rechtsbereich nutzbar ist. Hinzu kommt, dass wir glauben, sowieso alle juristischen Tätigkeiten selbst am besten erledigen zu können. Dann wundert es nicht, dass die wenigsten Unternehmensjuristen in ihrem Arbeitsalltag Legal Tech nutzen.
Legal Tech misslingt, weil in der Rechtsabteilung die notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten fehlen. Juristische Expertise und Erfahrung genügen nicht. Mit Legal Tech verändern Rechtsabteilungen nämlich ihre Arbeitsweise. Erfahrungen und Kompetenzen mit Veränderungsmanagement, Projektmanagement, Softwareprogrammierung sowie kundenzentrierter Produktentwicklung sind kritisch für die erfolgreiche Einführung von Legal Tech. Das lernen Juristinnen und Juristen nur von Expertinnen und Experten innerhalb und außerhalb ihres Unternehmens. Und sie lernen es von Rechtabteilungen und Kanzleien, die bereits erfolgreich mit Legal Techs zusammengearbeitet haben. Das kostet weder viel Zeit noch viel Geld. Es kostet – wie alle erfolgreichen Projekte – vor allem Willen und Wollen, also persönliche Motivation, Disziplin und Resilienz.
Keine Fürsprache?
Wenn die Chefjuristin oder der Chefjurist, wenn der Vorstand oder die Geschäftsführung nicht vorgeben und – wichtiger – vorleben, dass die Rechtsabteilung die Freiheit hat, ihre eigene Arbeitsweise im Internetzeitalter kritisch zu hinterfragen und die digitale Transformation nicht als Hindernis, sondern als Sprungbrett für sinnvolle Veränderungen zu nutzen, dann findet Legal Tech nicht statt. Und dann scheitert Legal Tech, selbst wenn es hier und da in Pilotprojekten ausprobiert wird. Die Fürsprache von oben, der vielzitierte „tone from the top“, ist die conditio sine qua non für Legal Tech in Rechtsabteilungen.
2) Wie Legal Tech in Rechtsabteilungen gelingen kann
Nehmt Euch Zeit!
Die technologiegestützte Standardisierung, Digitalisierung und Automatisierung der Legal Services von Rechtsabteilungen ist ein Großprojekt. Das kostet Zeit und Energie, wie jede große Transaktion, jedes große Verfahren und jedes große Projekt, bei dem die Rechtsabteilung mitarbeitet. Das Projekt „Legal Tech“ muss oben auf der Prioritätenliste der Rechtsabteilungsleiterin stehen, damit es auch oben auf der Prioritätenliste aller Mitarbeiter:innen der Rechtsabteilung landet. Das ist im Alltagsgeschäft schwierig. Hilfreich ist es, wenn die Rechtsabteilung systematisch und strukturiert Inventur macht, bevor das Legal Tech Projekt startet: welche Fachabteilungen beraten wir, welche Rechtsgebiete spielen dabei eine Rolle, welche Aufgaben haben wir, welche Prozesse nutzen wir dafür und welche konkreten Tätigkeiten erledigen wir? Ordnen Sie die einzelnen Tätigkeiten nach Häufigkeit und Komplexität, werden Sie Muster erkennen: häufige und einfache Tätigkeiten kann Technologie für Unternehmensjuristen teilweise vollständig übernehmen; regelmäßige bis häufige Aufgaben von mittlerer Komplexität kann Technologie unterstützen; seltene bis regelmäßige Tätigkeiten von hoher Komplexität sind und bleiben die Domäne der Unternehmensjuristen. Die Zeit, die die Rechtsabteilung kurz-, mittel- und langfristig spart, weil Technologie ihre Tätigkeiten übernimmt bzw. unterstützt, ist um ein Vielfaches größer als die Zeit, die die Rechtsabteilung für das Projekt „Legal Tech“ investiert. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, die Rechtsabteilung über einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahren zu digitalisieren, nicht innerhalb eines Jahres. Einzelne (Teil-) Projekte lassen sich selbstverständlich schnell und einfach realisieren. Diese „quick wins“ sind wichtig, weil sie dem Projekt „Legal Tech“ Rückenwind geben.
Nutzt die richtigen Ressourcen!
Rechtsabteilungen können das Projekt „Legal Tech“ nicht allein stemmen. Sie sollten mit den Rechtsabteilungen anderer Unternehmen, mit Legal Techs und Kanzleien kooperieren, um miteinander und voneinander zu lernen, wie die Einführung von Legal Tech gelingt, welche Fallstricke zu beachten, welche Fehler zu vermeiden und welche Erfolgsfaktoren ausschlaggeben sind. Interdisziplinarität ist gefordert: Programmierer, Projektmanager, Veränderungsmanager, Design-Thinker sind gefragt, nicht nur Juristen. In mittleren und großen Unternehmen existieren diese Kompetenzen – sie müssen nur an einen Tisch gebracht werden. Ohne Personal- und Kosten-Budget gelingt es nicht. Umverteilung ist der Schlüssel zum Erfolg: wenn sie das Legal-Spend-Budget für externe Kanzleien um 10 bis 33% kürzen und diesen Betrag in Legal Techs, Digitalisierungsberater, Programmierer, Design-Thinker etc. re-investieren, dann geben sie nicht mehr Geld aus. Mittel- und langfristig werden Sie Geld sparen: das Budget für das Projekt „Legal Tech“ wird nach zwei bis fünf Jahren nicht mehr benötigt. Da die Unternehmensjuristinnen durch den Einsatz von Legal Tech entlastet werden, können sie Aufgaben und Tätigkeiten erledigen, die bislang aus Zeit- oder Kompetenzmangel an externe Berater ausgelagert wurden.
Probiert es aus!
Versuch macht klug. Manche Use Cases für Legal Tech in der Rechtsabteilung werden gelingen, manche werden misslingen. Wer Neuland betritt, darf nicht erwarten, dass alles reibungslos und perfekt glückt. Das interdiszipliäre Team für das Projekt „Legal Tech“ benötigt die Freiheit und den Freiraum für das Scheitern, auch wenn es wider die Natur von Juristen ist. Die Rechtsabteilung sollte sich mit den Fachabteilungen austauschen, für die „trial and error“ zum methodischen Handwerkszeug gehören (Produktentwickler, Ingenieure, Werbetexter etc.). Anhand der durchgeführten Inventur der Tätigkeiten (siehe oben) ergibt sich eine Landkarte für diverse Use Cases in den Rechtsgebieten, Aufgaben und Tätigkeiten der Rechtsabteilung. Der Austausch mit anderen Rechtsabteilungen, Kanzleien und Legal Techs wird die Anzahl der möglichen Use Cases befeuern.
Seid Business Partner!
Legal Tech erliegt einem Trugschluss: es nutzt angeblich nur Kanzleien und Rechtsabteilungen, aber nicht den Mandanten, sprich Business Partnern. Der mittel- und langfristige Nutzen von Legal Tech liegt jedoch gerade darin, juristische Laien zu befähigen, rechtlich relevante Aufgaben und Tätigkeiten selbst rechtskonform zu erledigen. Und zwar ohne unmittelbare Beteiligung von Unternehmensjuristinnen oder Rechtsanwälten. Aus Legal Services werden Self-Services. Der Schlüssel dafür liegt im Business Partnering der Rechtsabteilung. Sie muss „mittendrin statt nur dabei“ sein. Die Rechtsabteilung muss das Business der Fachabteilungen verstehen und verinnerlichen, damit sie ihre Rechtsdienstleistungen wirklich mandantenorientiert erbringen kann. Legal Techs können Rechtsabteilungen und Fachabteilungen gemeinsam dabei unterstützen, diese mandantenzentrierten Legal Services durch Software zum Self-Service zu transformieren. Die Einkommenssteuersoftware ist ein Paradebeispiel dafür: Laien können ohne Steuerberater ihre Steuererklärung erstellen, einreichen und den Steuerbescheid des Finanzamtes überprüfen lassen. Weil das funktioniert, werden unzählige Use Cases mit Legal Tech ebenfalls funktionieren.
Neustarten!
Rechtsabteilungsleiter:innen müssen keine Visionäre werden, damit Legal Tech die Arbeitsweise ihrer Teams vereinfacht, beschleunigt und verbessert. Aber sie müssen mutig, experimentierfreudig und zukunftsgewandt sein. Keine Eigenschaften, die uns Juristen gemeinhin zugesprochen werden, oder? Kundenorientierte Innovation, konstruktive Disruption und digitale Transformation werden schnell als Worthülsen abgetan. Aber sind nicht gerade die Unternehmen, die Organisationen und die Teams in den vergangenen Jahren erfolgreich gewesen, die diese Themen tagtäglich verinnerlicht und diszipliniert vorgelebt haben? Warum sollte das nicht gleichermaßen für Inhouse Legal Teams gelten? Wir haben gemeinsam mit Kanzleien und Legal Techs die Möglichkeit, Technologie für unsere Arbeit nutzbar zu machen. Nicht, um uns zu ersetzen. Sondern um unsere Arbeitsweise zum Nutzen unserer Business Partner zu optimieren. Wenn wir es nicht anpacken, werden es andere für uns tun.
Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des gleichlautenden Beitrags des Verfassers in Steinbrecher/Breidenbach (Hrsg.), Handbuch Digitale Rechtsabteilung, C.H. Beck, München. Das Handbuch erscheint voraussichtlich Ende 2021.
Autor: Rechtsanwalt Dr. Alexander Steinbrecher, LL.M. (Tulane) ist als Head of Legal Germany, Urban Transport & Services für ALSTOM in Berlin tätig. Davor leitete er verschiedene Rechtsabteilungen bei Bombardier Transportation. Daneben ist er als Of Counsel und Mediator sowie als Lehrbeauftragter tätig. Er ist Mitgründer des „Roundtable Innovation und Legal Tech“, Mitherausgeber der Zeitschrift „Recht Digital“ sowie des Handbuchs „Digitale Rechtsabteilung“. The Legal 500 zählt Dr. Steinbrecher zu den innovativsten und einflussreichsten Unternehmensjuristen in Deutschland.