Fachartikel

Legal Tech in Lateinamerika

Welche Trends und welche Potentiale können für Lateinamerika ermittelt werden und wo liegen die zukünftigen Herausforderungen? Diese Fragen werden anhand von drei Szenarien beantwortet.

1. Staatliche Perspektive

In der Region können zwar viele Staaten umfangreiche Digitalisierungsstrategien und eigenständige KI-Strategien vorweisen. Institutionelle Kapazitäten und fehlende finanzielle Mittel verhindern jedoch eine flächendeckende und kohärente Implementierung. Silo-Kulturen sind Teil des Problems. Im föderalen Geflecht verschiedener staatlicher Ebenen lehnen autarke Behörden die Offenlegung ihrer Prozesse zumeist kategorisch ab. Es verwundert daher nicht, dass sich interoperable Systeme in der Realität bisher kaum durchgesetzt haben.

Gerade in diesem Umfeld ist Legal Tech der neue Underdog. In Abkehr zu großen Systemreformierungen geht der Trend zu punktuellen Pilotprojekten. Diese werden vor allem von internationalen Entwicklungsbanken in Kooperation mit der Regierung in möglichst repräsentativen Institutionen auf nationaler Ebene vorangetrieben.

Passend zu den jahrelang diskutierten Justizreformen scheint die Experimentierfreudigkeit vor allem hier sehr groß zu sein. International bekannt geworden ist die bereits im Jahr 2017 aus der Staatsanwaltschaft von Buenos Aires heraus entwickelte Software Prometea, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz Informationen kategorisiert, zusammenfasst und darüber hinaus auch Verfügungen, Stellungnahmen und Entscheidungen vorbereitet. Die Verfahren konnten signifikant verkürzt werden. Kurz darauf kam die Software bereits für Vergabeverfahren in der argentinischen Verwaltung und im Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zum Einsatz. Ähnliche Systeme wurden für den Obersten Gerichtshof von Kolumbien (PretorIA) und Brasilien (Victor) entwickelt. In Mexiko finden intelligente Lösungen beispielsweise in Familiengerichten Anwendung (Expertius). Das Pilotprojekt Tucuy soll dieses Jahr in Peru zwischen der Schnittstelle von Polizei, Staatsanwalt- und Richterschaft eingesetzt werden und Gefahrabwehrmaßnahmen vorhersehen.

Ausblick: Abgesehen von der Justiz sind da noch die zehntausend anderen Behörden und immensen bürokratischen Abläufe, die vor allem eins bedeuten: viele Chancen für Start-Ups, die Effizienzen in Verwaltungsprozessen steigern können. Der brasilianische Bundesrechnungshof informierte zuletzt darüber, dass die drei KI-Bots Alice, Sofia und Monica die öffentlichen Ausschreibungen und Beschaffungsaktivitäten der Bundesverwaltung überwachen. Das Vergabeverfahren ist ein gutes Beispiel, wie solche Technologien den Rechtsstaat stärken.

2. Bürgerperspektive

Dass es nicht immer nur um KI gehen muss, zeigen die folgenden Beispiele. Als man während der Pandemie dazu gezwungen war, die ersten Verwaltungsdienstleistungen über Serviceportale digital abzuwickeln, galt dies als bahnbrechend. Zum Teil wurden One-Stop-Citizen-Shops mit umfangreichen Leistungsangeboten geschaffen, die mit der dazugehörigen mobilen App und dem integrierten Bezahlsystem abgerundet wurden (z.B. Mi Argentina, Uma Conta in Brasilien, Chile Atiende oder Mi Cuenta Digital in Mexiko). Nicht funktionierende Systeme, die fast unbekannt geblieben sind, sind die Ausnahme geblieben (z.B. die mobile App Gob.ec in Ecuador oder Portal del Ciudadano in Peru).

Keines der Portale erfasst aber alle denkbaren Verwaltungsleistungen, gerade solche die in die Zuständigkeit von Gemeinden fallen. Auch für justizielle Angelegenheiten existieren wieder eigene Systeme (z.B. Sistema de Gestión Judicial in Argentinien oder Oficina Judicial Virtual in Chile). Die Customer Journey ist auch deshalb beeinträchtigt, weil parallele Systeme angeboten werden, die zwischen einzelnen Verfahrenstypen unterscheiden (z.B. Trámites a Distancia in Argentinien, DocDigital in Chile). Darüber hinaus ermöglichen viele dieser Portale keine Kommunikation mit den Behörden. Dieses Defizit sollen digitale Bürgerbriefkästen kompensieren (z.B. notitifica.gov in Brasilien, Buzón Digital in Bolivien oder Casilla Única in Peru).

Insgesamt fällt auf, dass unmet needs noch besser identifiziert und bewertet werden müssen. Dass die Bevölkerung grundsätzlich in die rasante Entwicklung digitaler Strukturen eingebunden werden soll, wird auf den Serviceportalen deutlich, die mehrheitlich Bewertungsmechanismen enthalten. Da die Partizipation ex-post stattfindet, sind die tatsächlichen Wirkungen dieser Massenbefragungen und Likes auf den Service-Delivery-Prozess aber eher zu bezweifeln.

Ein Blick auf die Justiz zeigt, dass Serviceportale angeboten werden, die Informationen für schutzbedürftige Zielgruppen anbieten oder als virtuelle Anlaufstelle dienen, um Straftaten zu melden. Diese werden von den traditionell etablierten Public-Defense-Institutionen entwickelt (z.B. mobile App DPU Cidadão in Brasilien). In Sachen Online-Dispute-Resolution beginnen sich im Ansatz Self-Service-Prozesse für Verbraucherkonflikte durchzusetzen, die von den Handelskammern entwickelt werden (z.B. Resolución en Línea in Chile). Internetgerichte, vor allem in Bezug zur digitalen Klageerhebung, sind bisher die Ausnahme. Vorreiter ist Brasilien, hier waren bereits im Jahr 2020 ganze 96,9 Prozent aller Gerichtsverfahren digital initiiert worden.

Ausblick: Die Digitalisierung der Kommunikation der Bevölkerung mit der Verwaltung wird weiter im Mittelpunkt stehen, um diese kostengünstiger, transparenter und gerechter zu gestalten (u.a. muss die Umsetzung des Whole-of-Government-Ansatzes und des Once-Only-Prinzips forciert werden). Zudem gilt es die Serviceportale der Justiz auszubauen und Internetgerichte zu etablieren, um den Zugang zum Recht und Informationsmöglichkeit breiter Bevölkerungsschichten zu verbessern.

3. Businessperspektive

Laut CB Insights haben Tech Start-Ups in der Region im Jahr 2021 viermal mehr Venture Capital eingesammelt als 2019 (insgesamt 20 Milliarden USD). Die Investitionen haben sich seit 2015 verzehnfacht, schneller als in Asien, Europa oder den USA. Die Tech Hubs befinden sich in Sao Paulo, Mexico City und Santiago de Chile.

Für Legal Tech hat sich die Innovation vor allem in B2B-Geschäften abgespielt. Alle denkbaren Lösungen, von Case Management über Legal Research, haben sich erfolgreich auf dem Markt etabliert. In der Region spezialisieren sich immer mehr Start-Ups auf einzelne interne Prozesse und perfektionieren diese, anstatt Full-Services anzubieten. Das zeigt das chilenische Start-Up Lemon Tech, das bereits 2003 gegründet wurde und zum erfolgreichsten SaaS-Anbieter in der Region wurde, als es seine Timebilling-Lösung vorstellte, sprich eine simple Stundenerfassung. Dagegen existieren kaum Lösungen, die mit Hilfe von KI die Bearbeitung juristischer Texte ermöglichen, etwa zur Vorhersage von rechtlichen Risiken (Ausnahme sind zahlreiche brasilianische Start-Ups z.B. Intelivix oder ForeLegal). Das B2C-Geschäft fokussiert sich vor allem auf die alternative Streitbeilegung und das Verbraucherschutzrecht, wobei die Unternehmen hier mit den staatlich entwickelten Lösungen konkurrieren (z.B. ReclameAqui in Brasilien). Ein neuer vielversprechender Bereich gilt den B2G-Geschäften, die auch als GovTech (für Government Technology) bezeichnet werden. Der Markt wird aktuell noch von großen Technologieunternehmen beherrscht. Neu entstehende Fördermaßnahmen für GovTech versprechen aber diesen in Zukunft weiter zu diversifizieren (z.B. unterstützt die lateinamerikanische Entwicklungsbank CAF u.a. das mexikanische Startup OSCity, dass Bürgerservices verbessern will). Spannend sind auch Angebote im Bereich der e-Notariate, die in einigen Ländern sogar digitale Beglaubigungen erlauben (z.B. in Brasilien, Kolumbien und Mexiko).

Auf großes Interesse stößt zudem alles was mit Blockchain zu tun hat. Die Idee der Dezentralisierung findet großen Anklang in der Region, weil dem öffentlichen Datensektor wenig Vertrauen geschenkt wird. Konkrete Use Cases haben sich bisher aber nicht durchgesetzt (z.B. Blockchain Federal Argentina, die 2018 von einer NGO und einem Universitätsverbund gegründet wurde). Die Technologie wird aktuell vor allem im Kontext der Self-Sovereign Identity diskutiert, für die sich auch die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) einsetzt. Digitale Identitäten sind auch notwendig, um die hier vorgestellten Serviceportale sicher nutzen zu können, werden in den meisten Ländern aber kaum genutzt.

Ausblick: Die Opportunitätskosten für Start-Ups in Lateinamerika sind günstig, außerhalb der großen Tech Hubs existiert wenig Konkurrenz und Geschäftsmodelle können schnell und kostengünstig expandieren. Hier gilt es u.a. das Potential des B2G-Geschäfts zu erkennen, um an der Verbesserung der Verwaltungsprozesse mitzuwirken. Attraktive Fördermöglichkeiten internationaler Entwicklungsbanken können hierfür genutzt werden.

Fazit

Die Szenarien zeigen, dass Legal Tech in Lateinamerika zunehmend bei der Verbesserung der Rechtstaatlichkeit an Bedeutung gewinnt. Dies haben auch die Regierungen erkannt, die politisch sehr ambitionierte Digitalisierungsziele für die Verwaltung und Justiz formulieren. Die Politikgestaltung muss nun auch in der Praxis die Erbringung von Dienstleistungen in den Mittelpunkt stellen. Die Privatwirtschaft kann den öffentlichen Sektor wiederum unter Druck setzten, diese Transformation weiterzuführen. Die regionale Infrastruktur kann dabei genutzt werden, um Geschäftsmodelle zu skalieren. Bei der Expansion europäischer Start-Ups sollte der Blick auf Lateinamerika daher nicht vergessen werden. Lerneffekte in die andere Richtung sind aber ebenfalls nicht zu unterschätzen. Hier liegen ungeahnte Synergieeffekte, um disruptive Technologien auf einem schnell wachsenden Markt von über 700 Millionen Menschen einzusetzen.

Autorin: Eluisa Helbig-Marchena ist deutsche Juristin und Entrepreneurin. Sie hat ein internationales Expertenteam geführt, mit dem sie den ersten Legal Tech Index für die Region Lateinamerika erstellt hat. Aktuell gründet sie ein Legal Tech Start-Up für die Region.

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