Fachartikel

Expertise-Management durch Legal Tech

Die juristische Expertise der eigenen RechtsanwältInnen bildet die Wertschöpfungsgrundlage jeder Kanzlei. Diese Binse verstehen alle. Blickt man aber hinter die Kulissen, tritt häufig zu Tage, wie stiefmütterlich und unbedarft mit dem Thema Wissensmanagement umgegangen wird. Daran leidet nicht nur die Profitabilität, sondern durch Personalfluktuation kann sogar das Mandatsgeschäft in Schieflage geraten. Das kann sich mit Legal Tech ändern lassen.

Bekanntermaßen verlässt das wertvollste Gut einer Kanzlei jeden Abend den Schreibtisch und die Kanzleieigner müssen darauf hoffen, dass es am nächsten Tag den Weg zurück in die Kanzlei findet. Kanzleien sind Beratungsunternehmen. Wie bei allen Beratungsunternehmen bildet die Expertise der BeraterInnen die wirtschaftliche Grundlage. Deshalb schmerzt es unmittelbar, wenn in Kanzleien Expertise fehlt oder gar verloren geht. Klassische Schmerzmomente im Leben einer Kanzlei treten auf, wenn AnwältInnen in der Mandatsarbeit fehlen, auf deren Expertise kaum verzichtet werden kann. Ob aufgrund eines Kanzleiwechsels, Eintritt in den Ruhestand oder auch nur temporär wegen Urlaubs ist dabei egal. Die fehlende Expertise kann nicht sinnvoll ausgeglichen werden.

Dass dies in einer komplexer werdenden und zunehmend regulierten Wissensgesellschaft für Probleme sorgt, ist längst bekannt. Unter der Bezeichnung Wissensmanagement beschäftigen sich Forschung und Praxis bereits seit den 1990ern mit der Analyse solcher Probleme und dem Finden von Lösungen. Alle großen Wirtschaftskanzleien beitreiben Wissensmanagement in der ein oder anderen Form; häufig mit speziell dafür eingestellten JuristInnen. In Wirtschaftskanzleien ist die Personalfluktuation besonders hoch, sodass ein funktionierendes Wissensmanagement eine strategisch wichtige Rolle einnimmt. Blick man aber in den juristischen Mittelstand und darüber hinaus, mangelt es zwar selten am Sinn für die Relevanz des Themas, allerdings fehlt häufig das Knowhow, wie Wissensmanagement erfolgreich in der eigenen Kanzlei etabliert werden kann.

Warum Wissensmanagement selten erfolgreich war

Wie etliche Fallbeispiele auch aus großen technikaffinen Unternehmen belegen, ist die erfolgreiche Einführung eines Wissensmanagementsystems keine leichte Angelegenheit. Es ist mitnichten so, dass alle anderen diese Aufgabe mit Bravour meistern, nur wir RechtsanwältInnen nicht. Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig. 

Ein häufig unterschätzter Grund ist die mangelnde Berücksichtigung der menschlichen Komponente. Die gelebte Kanzleikultur ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Nur Zusammenschlüsse, die sich als Team verstehen, das gemeinsam mehr erreicht als allein, können eine Wissensinfrastruktur aufbauen und pflegen, von denen alle profitieren. Wissensmanagement ist keine Aufgabe, die man abhakt. Es muss als integraler Bestandteil des Geschäftsprozesses begriffen und gelebt werden.

Wissensmanagement-Projekte misslingen auch wegen (vermeidbaren) handwerklichen Fehlen. Es fehlt an einem systematischen Vorgehen, welches das Wissensmanagement an den strategischen Kanzleizielen ausrichtet. Etablierte Methoden und Good Practices werden ignoriert. 

Schließlich hat auch die Technik es den JuristInnen bisher nicht wirklich einfach gemacht. Kanzleien und Rechtsabteilungen mussten sich Krücken bedienen, um ihr Wissensmanagement zu betreiben. Diese kommen in Gestalt tief verzweigter Ordnerstrukturen daher oder treten im Gewand von Dokumentenmanagement-Systemen auf, die bei näherer Betrachtung nur revisionssichere Archive sind. Die meisten bestehenden Systeme kranken daran, dass Inhalte allenfalls von jenen gefunden werden können, die die Struktur angelegt haben. Außerdem müssen sie aufwendig gepflegt werden.

Entscheidende Erfolgsfaktoren durch neue Technologien

In den letzten Jahren sind allerdings Legal Tech-Lösungen entwickelt worden, die zumindest Lösungen für den technischen Teil der Probleme bereithalten. Diese betrachtet die Dokumentenablage nicht mehr nur als Archiv, sondern sehen in ihr eine produktive Wissensbasis, mit der das Beratungsgeschäft profitabler gestaltet werden kann und gleichzeitig die Mandatsarbeit zufriedenstellender gelingt. 

Ein zentraler Aspekt ist dabei eine performante Suche, die nicht nur Dokumentenlisten zurückliefert, die jeweils wieder mühevoll geöffnet werden müssen, sondern in die Dokumente blickt. Es werden die Inhalte der Dokumente unmittelbar anzeigt, sodass NutzerInnen sofort beurteilen können, ob die Information relevant ist. Außerdem sind moderne Systeme so gestaltet, dass für die Kanzlei wertvolles Wissen “on the job” entsteht. Somit muss nicht mehr wie bisher viel Zeit aufgewendet werden, um das Wissen zu pflegen: Das geschieht während der Mandatsarbeit und es besteht ein effizienter Prozess, wie die dort gewonnenen Erkenntnisse Einzug ins digitale Kanzleigedächtnis finden.

Möglichkeiten zur Anreicherung der Dokumenteninhalte, um strategisch wichtige Informationen wie etwa ob eine Klausel Verkäufer- oder Käufer-freundlich ist, welche Formulierungen Marktstandard sind und an welchen Stellen taktische Konzessionen gemacht werden können, heben das Wissensmanagement auf ein neues Niveau. Das System enthält nicht mehr nur reines Wissen, sondern auch juristische Expertise. Wissensmanagement wird zu Expertise-Management.

Die Vorteile liegen nicht nur darin, dass ein wesentlicher Teil des Wissens und der Expertise in einer Kanzlei trotz menschlicher Unwägbarkeiten erhalten bleibt. Neue KollegInnen können sich auch deutlich leichter und zügiger eigenständig Inhalte erarbeiten und schneller eine höhere Beratungskompetenz entwickeln. Ein funktionierendes Expertise-Management sorgt auch dafür, dass Qualitätsstandards in der Kanzlei eingehalten und Beratungsrisiken minimiert werden. All dies sorgt auch für eine höhere Zufriedenheit bei den MandantInnen. 

Wie bei jedem ExpertInnenrat darf nicht vergessen werden, dass MandantInnen die Güte des Rechtsrats selten einschätzen können. Dann kann die durch das Expertise-Management gesteigerte Beratungsgeschwindigkeit ein wichtiger differenzierender Faktor sein, der die eigene Kanzlei von der Konkurrenz abhebt. Schließlich ist die Kanzlei dadurch auch besser gewappnet, wenn Billable Hours unter Druck geraten sollten.

Die Zukunft beginnt hier

Durch ein effizientes Expertise-Management ergeben sich aber auch ganz neue Chancen. Kanzleien wird ermöglicht, viel effizienter im Team zu kollaborieren und Cross-Selling-Potenzial zu heben. Denn durch das Expertise-Management kann sofort identifiziert werden, bei welcher Person jene Expertise besteht, die für das Mandat benötigt wird. Außerdem kann auf dieser Grundlage die Kanzleiexpertise auch im Sinne der Kanzleistrategie weiterentwickelt werden. Dabei ist in keiner Weise zu besorgen, dass man als JuristIn nun nicht mehr gebraucht werde, weil im System nun “alles” enthalten sei. Das ist – auch wenn sie häufig von JuristInnen geäußert wird – eine völlig unbegründete Angst. Denn so gut das digitale System auch sein mag, es kann immer nur einen Teil der Expertise abbilden. Die menschliche Expertise geht viel weiter. Sie ist (selbstverständlich) für gute Beratung unersetzlich.

Die Corona-Situation hat uns zusätzlich vor Augen geführt, wie wichtig ein effizientes Expertise-Management ist. Denn durch Home Office und asynchrones Arbeiten kann nicht mehr einfach über den Flur gelaufen werden, um sich mit KollegInnen auszutauschen. Daneben wirft die Löschpflicht des Art. 17 der DSGVO ihre Schatten. Wenn das digitale Kanzleigedächtnis durch Expertise-Management nicht datenschutzkonform aufgestellt wird, droht laufender Gedächtnisverlust für sämtliche Expertise, die älter als 10 Jahre ist.

Zum Schluss gibt es aber noch einen positiven Ausblick auf die Zukunft: Das digitale Expertise-Management liefert auch die Datengrundlage für statistische Methoden, auf denen moderne Technologielösungen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz basieren. Damit schafft das Expertise-Management gleichsam die Grundlage für eine echte Kanzlei der Zukunft.

Autor: Tianyu Yuan, Rechtsanwalt, CEO der Codefy GmbH. Der Autor ist Rechtsanwalt und geschäftsführender Gesellschafter der Codefy GmbH. Das Technologieunternehmen schafft Softwarelösungen für wissensbasierte Arbeitsprozesse, mit denen juristische Expertise verwaltet und Prozesse automatisiert werden können. Außerdem berät Codefy Kanzleien und Rechtsabteilungen zu den Themen digitale Transformation (Design Thinking, Lean UX, Change Management), Prozessoptimierung, Wissensmanagement, Legal Operations und Legal Process Outsourcing.

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