Einsatz von Virtual Reality-Technologie in Gerichtsverhandlungen
Schon heute kommen nicht nur Fotos und Videos, sondern auch Virtual Reality-Darstellungen vor Gericht zum Einsatz. Das Ziel: Durch besseres Tatsachenverständnis bessere Entscheidungen treffen.
Dass ein Bild mehr als 1.000 Worte sagt, ist eine Binsenweisheit. Doch auch wenn eine Vielzahl von Bildern vorliegen, ist es für Richter:innen manchmal schwierig, einen guten Eindruck von der streitrelevanten Örtlichkeit zu bekommen. Sei es, dass die Qualität der Fotos schlecht ist oder aber die Parteien erkennbar für sie vorteilhafte Perspektiven bei der Bilderstellung eingenommen haben. Manchmal erschließt sich dem Gericht auch schlicht nicht, wie die vorgelegten Fotos zusammengelegt werden müssen, um den streitrelevanten Ort widerzuspiegeln. Das alles könnte sich durch den Einsatz von 360-Grad-Fotos oder Videos ändern, die das Gericht mittels einer VR-Brille einsehen könnte. Entsprechende 360-Grad-Darstellungen erlauben dem Nutzer einen freien Rundumblick von einem oder mehreren, festen Standorten oder bei einer sich bewegenden Kamerafahrt durch eine Örtlichkeit.
Wiesbaden – der neueste Einsatz von 360-Grad-Kameras
Der jüngste Fall, bei dem (öffentlich bekannt) 360-Grad-Kameras im Justizkontext zum Einsatz gekommen sind, ist der sog. „Raser-Fall von Wiesbaden“. Was war passiert? Ein junger Mann war im Oktober letzten Jahres mit seinem PKW in der Nähe des Wiesbadener Hauptbahnhofs mit angeblich bis zu 130 km/h durch die Stadt gerast. Dabei kam es zu einem Unfall mit einem linksabbiegenden Fahrzeug, dessen Fahrer tödlich verletzt wurde. Im Rahmen der staatsanwaltlichen Ermittlungen hinsichtlich der Frage, ob dem Täter gegebenenfalls ein Mord vorzuwerfen sein könnte, sperrte die Polizei die Unfallörtlichkeit ab und stellte den (vermeintlichen) Unfallhergang nach. Dabei fuhr die Polizei mit baugleichen Fahrzeugen die Örtlichkeit ab – das Besondere: sowohl im Täter- als auch im Opferfahrzeug war in Augenhöhe des Fahrers eine 360-Grad-Kamera eingebaut. Deren Aufnahmen sollen nun den Ermittlern und etwaig dem Gericht zeigen, welche Sicht die Beteiligten bei dem Unfallgeschehen hatten. Auch an dem Standort einer Zeugin platzierte die Polizei eine entsprechende Kamera.
Kusel – der erste Einsatz einer VR-Brille vor einem deutschen Gericht
Auch im Rahmen des Ermittlungs- und sodann des entsprechenden Strafverfahrens hinsichtlich der sog. „Polizistenmorde von Kusel“ wurde modernste Technologie eingesetzt, um den Tatort in den Gerichtssaal des Landgerichts Kaiserslautern zu holen. Dabei gingen die Ermittler weiter als in Wiesbaden. Denn sie erstellten nicht nur eine 360-Grad-Aufnahme des Tatorts, sondern setzten einen Laserscanner ein, um die Örtlichkeit abzubilden. Ein Laserscan sorgt dafür, dass durch die Reflektion eines ausgesandten Laserstrahls Bildpunkte der Umgebung erfasst und zu einer komplexen Punktwolke zusammengefasst werden. Das Ergebnis ist sodann ein virtuelles rekonstruiertes Modell der Örtlichkeit, in dem man sich vollständig frei bewegen kann. Dies tat sodann der Vorsitzende Richter im Rahmen der Hauptverhandlung, als er sich – ausgestattet mit einer VR-Brille – virtuell an den Tatort begab und dort verschiedene „Beam-Punkte“ abschritt. Unter solchen „Beam-Punkten“ sind Markierungen im VR-Modell zu verstehen, zu denen sich der Nutzer „hinbeamen“ kann – Hintergrund ist, dass viele Nutzer bei flüssigen Bewegungen in VR, also etwa dem Controller-gesteuerten Gehen in der virtuellen Welt, unter Übelkeit leiden (sog. visually induced motion sickness, kurz „vims“). Der Haupttäter wurde wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, die schriftliche Urteilsbegründung des Landgericht Kaiserslautern steht noch aus.
VR-Anwendungsmöglichkeiten im Zivilprozess
Auch im zivilgerichtlichen Verfahren drängen sich viele Anwendungsmöglichkeiten auf. In allen Bereichen, in denen sich die Verfahrensbeteiligten mit tatsächlich komplexen Sachverhalten auseinandersetzen müssen, könnte VR helfen, den Verstehensprozess im Blick auf die streitentscheidenden Umstände zu unterstützen. Sei es bei komplexen Baustreitigkeiten, Verkehrsunfällen mit mehreren Beteiligten oder anderen Großschadensereignissen. Dabei wäre denkbar, dass das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten das VR-Modell schon im Rahmen der Güteverhandlung einsieht, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten denselben Sachverhalt – im wahrsten Sinne des Wortes – vor Augen haben. Auch im Rahmen der sich anschließenden mündlichen Verhandlung nebst Beweisaufnahme könnte VR-Technologie zum Einsatz kommen, etwa indem unter Einsatz des VR-Modells eine Zeugenaussage plausibiliert wird oder ein Sachverständiger sein Gutachten erläutert.
Problemfelder beim gerichtlichen VR-Einsatz
Auch wenn die Einsatzmöglichkeiten im zivilgerichtlichen Verfahren vielversprechend erscheinen, sind praktische Probleme und zivilprozessuale Spannungsfelder schnell ersichtlich. In rein praktischer Hinsicht ist anzuführen, dass derzeit noch kein Gericht über die notwendige Technologie verfügt, um ein VR-Modell über eine VR-Brille selbstständig einzusehen – so hatte im Verfahren der „Polizisten-Morde von Kusel“ das BKA das entsprechende Equipment bereitgestellt. Auch stellt sich die Frage, ob die Richter in der Lage sein werden, die entsprechende Technologie in ausreichendem Maße zu bedienen und andere Verfahrensbeteiligte entsprechend zu instruieren. In zivilprozessualer Hinsicht wird ein Gericht – soweit sich das entsprechende Beweisangebot auf streitige und entscheidungserhebliche Tatsachen bezieht – wohl nicht umhinkommen, ein VR-Modell einzusehen, das eine Partei vorlegt.
Ausblick – Die Justiz der Zukunft
Jede:r, der/die sich für Digitalisierung und Innovationen im Rechtswesen interessiert, sollte sich auch mit Virtual Reality-Technologie und ihrem (potentiellen) Einfluss auf Gerichtsverfahren beschäftigten. Denn eines ist sicher: Virtual Reality-Technologie ist im Alltag der Menschen angekommen und wird auch den Alltag der Justiz immer stärker bestimmen! Wer einen Eindruck davon bekommen möchte, wie weit VR schon in den polizeilichen und justiziellen Alltag vorgedrungen ist, sollte sich auch den Podcast „Netzwelt“ von hr-iNFO vom 20.01.2023 anhören. Ausführliche Ausarbeitungen des Autors zu dem möglichen Einsatz von VR-Technologie im Zivilverfahren finden sich hier.
In diesem Sinne: Ran an die VR-Brille!
Autor: Prof. Dr. Simon J. Heetkamp, LL.M. hat an der TH Köln eine Professur für Wirtschafts-, Mobilitäts- und Versicherungsrecht inne, ist Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück im Schwerpunktbereich Digital Law und gewann letztes Jahr den eJustice-Cup, der vom Richterbund Hessen und IBM ausgelobt wurde. Im Frühjahr 2022 gründete Simon Heetkamp die „digitale richterschaft“; derzeit ist er vom Richteramt beurlaubt.