Digitalisierungs-Check: Digitale Standortbestimmung für Kanzleien
Jeder, der schon mal einen Routenplaner benutzt hat weiß: Um die Route zu ermitteln, ist neben einer Zielangabe auch ein Startpunkt erforderlich. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Digitalisierungsstrategie für Kanzleien. Die Strategie kann erst aufgehen, wenn nicht allein aktuell angesagte Werkzeuge und Trends das Ziel vorgeben, sondern auch die Ausgangslage berücksichtigt wird. Denn nicht jede Maßnahme ist gleichermaßen empfehlenswert oder im selben Zeitrahmen für jede Kanzlei umsetzbar. Doch wie ermittelt man einen Ausgangspunkt, der nicht mit eindeutigen GPS-Koordinaten beschreibbar ist? Hier helfen digitale Reifegradmodelle, sogenannte Frameworks, die verschiedene Aspekte der Digitalisierung beleuchten und in messbare, vergleichbare Ergebnisse überführen.
Schritt 1: Auswahl eines geeigneten Frameworks
In den vergangenen Jahren hat sich eine Vielzahl von Reifegradmodellen herausgebildet, die von abstrakten Beschreibungen bis hin zu konkreten Anleitungen reichen und Themen für KMU bis zur Industrie 4.0 abdecken. Hier gilt es zunächst, ein geeignetes Framework auszuwählen, um die spezifischen Bedürfnisse, Ziele und Herausforderungen der eigenen Kanzlei zu adressieren.
Zu den wichtigsten Auswahlkriterien gehört unter anderem die vorhandene Dokumentation. So sollte es eine gut dokumentierte Methodik mitliefern, die Auskunft darüber gibt, was und wie der Reifegrad konkret ermittelt wird. In der Regel kommen hier Fragebögen mit definierter Bewertungsskala zum Einsatz. Auf diese Weise kann die Anwendung des Rahmenwerks nachvollzogen und umgesetzt werden sowie eine konsistente, wiederholbare Bewertung gewährleistet werden.
Zum anderen sollte das Framework flexibel genug sein, um an die individuellen Bedürfnisse, die Größe und die Strukturen der Kanzlei angepasst werden zu können. Darüber hinaus sollte es möglichst viele Dimensionen berücksichtigen, die für die Kanzlei relevant sind. Unter den Dimensionen sind verschiedene Bereiche oder Aspekte zu verstehen, die betrachtet werden, um zu bewerten, wie weit eine Kanzlei in ihrer digitalen Entwicklung fortgeschritten ist. Das kann beispielsweise verwendete Technologien, die digitalen Prozesse, die digitale Kultur oder die Fähigkeiten der Mitarbeiter umfassen.
Dabei ist es wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Komplexität und Benutzerfreundlichkeit zu finden. Denn übermäßig komplexe Frameworks können sich als sehr zeitaufwendig oder schwierig in der Nutzung erweisen und unter Umständen die verfügbaren Kapazitäten zur Durchführung und Auswertung innerhalb einer Kanzlei übersteigen. Ein einfacheres, benutzerfreundlicheres Modell ist daher oft vorzuziehen.
Schließlich muss das Framework eine langfristige Perspektive bieten. Es sollte daher nicht nur den aktuellen Zustand bewerten, sondern ebenfalls zukünftige Entwicklungen abbilden können.
Schritt 2: Anpassung des Frameworks
Da standardisierte Rahmenwerke die spezifischen Herausforderungen und Ziele einer Kanzlei oft nicht vollständig abdecken, ist eine maßgeschneiderte Modifizierung unerlässlich. Hierbei sind zwei zentrale Aspekte zu berücksichtigen: die Erweiterung um zusätzliche Dimensionen und die Anpassung des Fragenkatalogs.
Standard-Frameworks bieten eine Grundlage, die in der Regel Dimensionen wie Produkte, Technologie, Führung, Kultur, Organisation und Strategie betrachten. Für eine präzisere Bewertung sollten Kanzleien zusätzliche oder spezifischere Dimensionen ergänzen, die für ihre individuelle digitale Transformation von Bedeutung sind. Dies könnte beispielsweise die Einbeziehung von Dimensionen wie Mandantenerfahrung, Datenzentrierung, Transformationsmanagement, spezialisierte Legal Tech-Anwendungen oder interne Kommunikationstechnologien umfassen.
Auch der Fragenkatalog je betrachteter Dimension kann je nach Zielsetzung der Kanzlei entweder zu umfangreich sein oder nur unzureichend die gewünschten Sachverhalte erfassen. Daher sollte er um entsprechende Fragen ergänzt oder verringert werden, um eine zielgerichtete Bewertung zu gewährleisten. Zudem ist es sinnvoll, die Formulierungen der Fragen so anzupassen, dass sie für alle Teilnehmer klar verständlich sind. Dazu empfiehlt es sich, den modifizierten Fragebogen zunächst in einem kleineren Rahmen zu testen. Basierend auf diesem Feedback kann er sodann entsprechend optimiert werden, bevor er in der gesamten Kanzlei zum Einsatz kommt.
Schritt 3: Datenerhebung in der Kanzlei
Bei der anschließenden Datenerhebung gilt es, alle Mitarbeitergruppen einzubeziehen und einen Zeitrahmen festzulegen, der eine hohe Rücklaufquote gewährleistet, ohne den normalen Kanzleibetrieb zu beeinträchtigen.
Durch die Einbeziehung aller Hierarchiestufen lässt sich ein umfassenderes und genaueres Bild des digitalen Reifegrads sowie der digitalen Kultur der Kanzlei erheben. Denn während beispielsweise Partner eine eher makroskopische, strategische Sicht auf die digitale Transformation haben, können Associates und Assistenzen wertvolles Feedback darüber liefern, welche digitalen Tools tatsächlich die Arbeitsabläufe unterstützen, wo Schulungsbedarf besteht oder welche Normen und Werte in der Kanzlei gelebt werden.
Ebenso entscheidend für die Validität der Ergebnisse ist eine hohe Teilnahmequote. Ein ausreichend langer Erhebungszeitraum stellt sicher, dass die Mitarbeiter die Flexibilität haben, den Fragebogen zu einem für sie günstigen Zeitpunkt auszufüllen. Daneben sollte der Zweck der Umfrage klar kommuniziert werden und die Bedeutung der Teilnahme für die zukünftige Entwicklung der Kanzlei betont werden. Zudem sollte der Fragebogen leicht zugänglich und nicht zu zeitaufwendig sein. Dabei können digitale Umfragetools die Teilnahme erleichtern und die anschließende Auswertung der Ergebnisse beschleunigen.
Neben der Teilnehmerzahl ist gleichfalls die Qualität der Antworten entscheidend. Daher sollte die Anonymität und Vertraulichkeit der Antworten gewährleistet werden, um ehrliche und unverfälschte Rückmeldungen zu erhalten. Daneben sollten die Mitarbeiter ausreichend Zeit für die Beantwortung des Fragebogens erhalten, um über die Fragen nachdenken und somit durchdachte Antworten geben zu können.
Darüber hinaus kann es hilfreich sein, während des Erhebungszeitraums Feedback zu sammeln und ggf. kleinere Anpassungen am Fragebogen vorzunehmen. So lassen sich leicht Missverständnisse klären oder die Verständlichkeit der Fragen verbessern.
Schritt 4: Digitale Standortbestimmung
Die Auswertung der erhobenen Daten ist ein zentraler Schritt, um den digitalen Reifegrad einer Kanzlei umfassend zu bewerten. Dieser Prozess beinhaltet eine detaillierte Analyse, Visualisierung und Interpretation der Ergebnisse mit dem Ziel, ein präzises Verständnis des aktuellen digitalen Zustands zu erlangen.
Auch hier gilt es, ausreichend Zeit in die Erhebung möglichst valider Ergebnisse zu investieren. Die Interpretation sollte sowohl darauf abzielen, konkrete, umsetzbare Erkenntnisse zu gewinnen als auch Prioritäten zu setzen. Dabei sollten voreilige Schlüsse oder die Bestätigung eigener Annahmen vermieden werden. Vielmehr empfiehlt es sich, die Ergebnisse als Grundlage für Diskussionen innerhalb der Kanzlei zu nutzen. Oft ist es zudem hilfreich, Rücksprache mit den Fachabteilungen zu halten, um die Ergebnisse gemeinsam zu reflektieren und einzuordnen. Darüber hinaus können im gemeinsamen Austausch bereits erste Handlungsempfehlungen für die Kanzlei entworfen werden.
Schritt 5: Kommunikation der Ergebnisse
Abschließend ist die transparente Kommunikation der Umfrageergebnisse sowie der daraus abgeleiteten Strategien und Maßnahmen an die Mitarbeiter von großer Bedeutung. Diese Transparenz trägt dazu bei, die getroffenen Entscheidungen innerhalb der Kanzlei nachvollziehbar zu machen und fördert das Engagement sowie die Bereitschaft, die digitale Transformation aktiv zu unterstützen. Daneben dient sie als Grundlage für einen offenen Dialog. Dieser bietet einen Rahmen, um mögliche Bedenken zu adressieren und eine Kultur der Offenheit und kontinuierlichen Verbesserung zu fördern.
Autorin: Sofie Dittmer ist als Digital Transformation Managerin in einer Hamburger Kanzlei tätig. Dort setzt sie Digitalisierungsprojekte um und ist zugleich zuständig für die Erhebung und Optimierung von Prozessen. Als studierte Wirtschaftsinformatikerin steht sie an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik, wo sie versucht, beide Seiten aufeinander abzustimmen.