Digitale Transformation in der Justiz: Menschliche Kompetenz bleibt unverzichtbar
„Leider ist es immer noch in unseren eigentlich modernen Zeiten so, dass wir einiges händisch erfassen müssen“, berichtet Dr. Bernd Scheiff, Präsident des OLG Köln. Zustimmendes Nicken im Saal. „Mein Ref war dem meines Vaters vor 40 Jahren erschreckend ähnlich. Im Büro stand zwar eine Kaffeemaschine, aber von eAkten keine Spur“, informiert Dr. Nils Feuerhelm, Volljurist und Speaker von recode.law e.V., die Anwesenden auf dem 2. Digital Justice Summit. Natürlich ist die Digitalisierung der Justiz ein vielschichtiger und langwieriger Prozess. Doch wie ist der aktuelle Stand der Dinge? Eine Zwischenbilanz von Ende November.
In einigen Teilen der Republik schreitet die Entwicklung einer digitalen und lebensnahen Justiz mit großen Schritten voran, während in anderen eine funktionierende, digitale Infrastruktur noch in weiter Ferne liegt. In dieser Hinsicht bot der 2. Digital Justice Summit eine hervorragende Plattform, um gemeinsam konstruktive Lösungen zu erarbeiten. Zu diesem Anlass fanden rund 300 hochrangige Führungskräfte aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Justiz zusammen und gaben anregende Impulse – darunter Georg Eisenreich, bayrischer Staatsminister der Justiz, Anna Gallina vom BVJ Hamburg, Martin Hackl, CDO des BMJ in Österreich, und Dr. Angelika Schlunck, Staatssekretärin des BMJ. Außerdem nahm Dr. Graziella Marok-Wachter, Regierungsrätin und Ministerin für Infrastruktur und Justiz in Liechtenstein, teil.
KI in der Justiz – nicht länger ein Science-Fiction-Szenario
In der privatwirtschaftlichen Beratung der öffentlichen Hand ist das Thema Künstliche Intelligenz (KI) längst fester Bestandteil des Repertoires. Dort wird mit Hochdruck und Engagement an der Entwicklung von KI-basierten Lösungen gearbeitet. Doch auch am OLG in Stuttgart kommt seit November 2022 ein KI-basiertes Assistenzsystem zur Bearbeitung der sogenannten Diesel-Verfahren zum Einsatz: „OLGA“, eine Abkürzung für Oberlandesgerichtsassistent. Das Massenverfahren beschleunigt dort die Arbeit der Richterinnen und Richter in den vier Dieselsenaten spürbar.
Anders als in Baden-Württemberg wird in NRW ein eher konservativer Ansatz verfolgt: Daten gehören in Justizhand, was bedeutet, dass Forschungsprojekte „on premise“, also vor Ort, ablaufen müssen. Vor diesem Hintergrund äußert Isabelle Biallaß, Richterin am Amtsgericht Essen und Leiterin des Think Tank Legal Tech und KI der Justiz NRW, den Wunsch nach weniger Geheimhaltung von Gerichtsakten. Sicherlich solle nicht alles offengelegt werden, jedoch müssten Missstände aufgedeckt und über Urteile kritisch reflektiert werden können. „Die Offenlegung von Akten könnte auch die Möglichkeit bieten, einfachere Anwendungsfälle für die KI nutzbar zu machen, wie etwa 10.000 Baufälle“, schlägt Biallaß vor.
Weg von den Insellösungen
Doch die künstliche Intelligenz ist bei Weitem nicht das einzige Thema auf der Agenda. An vielfacher Stelle wird das Stichwort „200 Millionen“ in Zusammenhang mit „Aber das kann nur der Anfang sein“ oder „Die digitale Justiz ist kein Sparmodell“ genannt. Gemeint sind natürlich die 200 Millionen Euro, die die Digitalisierungsinitiative (ehem. Digitalpakt) des BMJ bis 2026 für die Digitalisierung der Justiz zur Verfügung gestellt hat. An dieser Stelle ist Kreativität gefragt, weshalb vielfach die Zusammenarbeit von Bund und Ländern gefordert wird. Der Gedanke der Nachnutzbarkeit von funktionierenden Modellen nach dem EfA-Prinzip kommt ebenfalls einige Male auf. Es braucht „eine gemeinsame Digitalstrategie, keine Insellösungen“, fordert Georg Eisenreich.
Der Blick schwenkt auch von Deutschland zum bevorstehenden AI-Act, der noch einmal Bewegung in die Justiz bringen dürfte, sowie gen Österreich. Von dort reist CDO Martin Hackl an und hat in seinem Impulsvortrag auch ein Erfolgsrezept dabei: Es bedarf 1. eines Change Managements, bei dem ein System aus der Praxis der Justiz für die Justiz geschaffen wird, 2. Innovationsmethoden inklusive der Definition eines Front-End, einem iterativen Vorgehen und Versuchsräumen, 3. Agiler Methoden, bei denen ein Projekt nicht mehr als eine Million Euro kosten sollte, 4. einer Strategieentwicklung – je kleinteiliger umgesetzt desto besser – sowie 5. eines Architekturmanagements, demzufolge veraltete Strukturen überarbeitet werden müssen.
Die Diskussion drehte sich auch um die „magische“ Zahl 31.12.2025 – die Frist, bis zu der die eAkte vollständig eingeführt sein soll. Die Anwesenden waren sich einig, dass dies keineswegs das Ende der Modernisierung der Justiz bedeutet. Dr. Christina-Maria Leeb, Referentin des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz, betonte: „Die Zufriedenheit mit der eAkte war bei uns in Bayern in den ersten zwei Monaten sehr hoch, dann ist sie drastisch gesunken. Nach einem Jahr will nun niemand mehr auf sie verzichten. Wandel braucht einfach seine Zeit. Das Wichtigste ist, dass die Systeme benutzerfreundlich und ergonomisch sind”. Dr. Angelika Schlunck zufolge ist die Einführung der eAkte bis zur gesetzten Frist „bundesweit machbar“.
Der enorme Mehrwert einer digitalisierten Justiz
Sowohl die Einführung der eAkte als auch die Diskussion um die KI haben gemeinsam, dass sie die Menschen in der Justiz von einer enormen Arbeitsbelastung befreien sollen. Das Rechtssystem ist seit langem unterbesetzt. Es werden Softwarelösungen benötigt, um redundante Prozesse zu beseitigen. Konkrete Vorschläge aus den Foren sind ein digitaler Terminkalender, die Verknüpfung von Terminen mit der eAkte, vorformulierte E-Mails, Besprechungsräume und Schulungen. „Die Pensionierungswelle steht bevor. Der Staat kann nicht anfangen, Jurist:innen zu klonen, sondern muss zeitgemäße digitale Arbeitsplätze schaffen. Sonst wird sich in Zukunft kaum noch jemand für diesen Beruf entscheiden“, mahnt Prof. Dr. Anne Paschke, Universitätsprofessorin der TU Braunschweig.
Eine digitale Justiz bedeutet zugleich auch ein für die Bürgerinnen und Bürger zugängliches, lebensnahes System. Denn die Währung der Justiz ist Vertrauen. Dieses muss um jeden Preis erhalten bleiben. Deshalb müssen der Zugang, der Informationsaustausch und die Schaffung sinnvoller Dienste die Eckpfeiler jeder Modernisierung sein. Auf dem Summit werden Online-Dienste, wie etwa ein digitaler Vertrag, der Zugang zu Akten und Informationen über den Stand des Verfahren, entwickelt. Einige Projekte laufen bereits, wie die „Digitale Rechtsantragstelle“, die einen niedrigschwelligen Zugang zur Justiz in Form von Informationen und Unterstützung bietet, berichtet Sina Dörr, Richterin am LG Bonn und Leiterin des Think Tank Legal Tech und KI der Justiz NRW. Wichtig für ein solches Projekt ist ein iterativer Ansatz, der schrittweise einen tatsächlichen Bedarf abdeckt und am Ende bedienungsfreundlich ist. Julia Kleber, Mediatorin und Design Thinkerin, betont: „Wenn wir Dinge aufgreifen, die die Menschen interessieren, schafft das Vertrauen – auch Vertrauen in das System.“ Dabei müssen Sicherheitsstandards eine Priorität sein.
Menschen wollen vor allem eines: Gehört werden
Um das Vertrauen in die Justiz zu wahren, ist es auch wichtig, die Grenzen der Digitalisierung zu kennen. Obwohl eine Gerichtsverhandlung objektiv geführt wird, ist sie für die Menschen hoch emotional. „Es ist absolut richtig, in geeigneten Fällen Anhörungen online durchzuführen. Aber die überwiegende Mehrheit sollte live bleiben. Die meisten Menschen gehen in ihrem Leben nur zwei, drei Mal vor Gericht, da wollen sie auch physisch ins Gericht gehen“, sagt Dr. Christian Schlicht, Richter am Landgericht Köln. Laut Isabelle Biallaß gibt es auch für KI eine klare Grenze: „Wenn ich eine KI fragen kann, wer in einem Fall, wie einem Nachbarschaftsstreit, Recht hat und wer nicht, dann ist niemand mehr zu einem Vergleich bereit“. Es ist also an mancher Stelle Vorsicht geboten. An anderen Stellen gilt jedoch das genaue Gegenteil: „Was wir jetzt brauchen, ist Mut und Aufbruchsstimmung“, betont Brigitte Zypries, Bundesministerin a.D. und Kongresspräsidentin, denn eine analoge Justiz wird in Zukunft nicht mehr tragfähig sein.
Autorin: Lisa Kannengießer ist studierte Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin. Sie hat als Journalistin für zahlreiche Medien gearbeitet, darunter die Süddeutsche Zeitung, die Rheinische Rundschau und die Westfälischen Nachrichten. Aktuell leitet sie die Plattform Verwaltung der Zukunft (VdZ.org) mit den Themenschwerpunkten Politik, KI und digitale Justiz.