Fachartikel

Der Hinweisgeberschutz in Deutschland kommt – aber die Angst vor anonymen Hinweisen bleibt

Hinweisgeber:innen sind die wohl wichtigste Ressource, um Missstände in Unternehmen aufzudecken. Dennoch sind sie in Deutschland bisher wenig geschützt und riskieren Repressalien wie Mobbing und Kündigung. Ein neues Gesetz soll diese sogenannten Whistleblower endlich besser schützen. Gerade im Bereich Anonymität macht der Gesetzgeber aber Anfängerfehler.

Whistleblower sind essenziell

Hinweise von Mitarbeiter:innen und Dritten sind die wichtigste Ressource, um Verstöße und Missstände in Unternehmen und anderen Bereichen aufzudecken. Durch Whistleblower können Fälle im Durchschnitt etwa ein Drittel schneller aufgedeckt und abgestellt werden und Schäden durchschnittlich um etwa die Hälfte reduziert werden. Von Skandalen wie Cum-Ex über gepanschte Krebsmedikamente bis hin zu Wirecard waren es Whistleblower, die die notwendigen Informationen lieferten.

Viele prominente Whistleblower der Vergangenheit sind jedoch durch ihre Meldung in ihrer Branche „verbrannt“ oder leiden unter psychischen Problemen. Nicht ohne Grund sind Whistleblower daher in vielen Ländern wie beispielsweise den USA, Frankreich oder Großbritannien bereits seit langer Zeit umfassend geschützt.

Regierungsentwurf des Hinweisgeberschutzgesetzes

Bereits 2019 hatte das Europäische Parlament die Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Richtlinie (EU) 2019/1937), verabschiedet. Aufgrund der verschleppten Umsetzung hat die EU-Kommission inzwischen gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Am 13. April 2022 legte das Bundesjustizministerium schließlich einen ersten Referentenentwurf vor, der in leicht geänderter Form seit 27. Juli 2022 als Regierungsentwurf öffentlich ist. Die Bundesregierung kommt damit auch einer Forderung des Koalitionsvertrags nach, nach der Whistleblower besseren Schutz genießen sollen.

Im Kern etabliert das Gesetz erstmals in Deutschland einen umfassenden Schutz von Personen, die in ihrem beruflichen Umfeld erlangte Informationen über Verstöße melden (§ 1 HinSchG-E). Es schreibt für Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten die Einführung interner Meldestellen und die Nachverfolgung der Meldungen vor. Beschäftigten ist es dabei freigestellt, sich an diese internen oder beim Bund und den Ländern einzurichtende externe Meldestellen zu wenden (§ 7 HinSchG-E). Sie können ihre Meldungen dabei mündlich, per Telefon oder Sprachnachricht oder schriftlich abgeben. Für Meldestellen ist daher eine umfassende technische Lösung, die gleichzeitig die Dokumentation und Kommunikation vereinfacht, prädestiniert. Nach einer Meldung sind Hinweisgeber:innen umfassend vor Repressalien geschützt.

Besonders der unklare Anwendungsbereich, das Fehlen von Unterstützungsmaßnahmen, sowie von Mindeststandards zum Umgang mit Meldungen werden kontrovers diskutiert.

Anonymität: Willkürliche und unklare Priorisierung

Hier soll aber das Thema Anonymität behandelt werden, d.h. welche Rolle die Identität der meldenden Person spielt. Grundsätzlich ist die Identität der Hinweisgeber:in zu schützen. Allerdings könnte man sich vorstellen, die eigene Identität auch gar nicht preiszugeben. Laut Regierungsentwurf sollten solche anonymen Meldungen ermöglicht und bearbeitet werden. Aber nur dann, wenn „dadurch die vorrangige Bearbeitung nichtanonymer Meldungen nicht gefährdet wird“ (§16 HinSchG-E). Eine Pflicht zur Bearbeitung anonymer Hinweise gilt aber laut Begründung des Regierungsentwurfs nur bei „gravierende[n] Verstöße[n]“.

Man ahnt die Probleme für die (Rechts)praxis. Zuallererst ist die Formulierung „sollte“ eigenartig. Gibt der Gesetzgeber eine Empfehlung, ein Wahlrecht oder ist ein „Comply or Explain“ Prinzip gemeint? So könnte mit jeder anonymen Meldung willkürlich verfahren werden.

Zudem hängt die (Priorisierung der) Bearbeitung einer Meldung nun maßgeblich vom Merkmal Identität der Whistleblower ab und muss sogar unterschiedlich bearbeitet werden: ein nicht-anonym gemeldeter kleiner Verstoß ist vor dem anonym gemeldeten schwerwiegenden Verstoß zu bearbeiten. Zudem gibt es die Möglichkeit, den anonymen Hinweis gänzlich zu ignorieren. Wie dies mit der Legalitätspflicht der Unternehmen zu vereinbaren ist, bleibt schleierhaft. Dabei wäre es nur sachdienlich, die Bearbeitung nach dem Informationsgehalt und der potenziellen Schwere des Schadens beurteilen zu dürfen. Auch im Zuge der gesetzlichen Abschlussprüfung oder bei Rechtfertigung der Geschäftsleitung gegenüber Aufsichtsrat, Gläubigern und Eignern birgt das erhebliches Konfliktpotential.

Dieser Mechanismus wird nur ausgehebelt, wenn es sich um „gravierende“ Verstöße handelt. Was darunter zu verstehen ist, bleibt unbestimmt. Bei der Beurteilung wird es regelmäßig zu Fehleinschätzungen oder unterschiedlichen Auslegungen kommen: die Meldestelle hat zu Beginn noch kein komplettes Bild des Verstoßes oder nur einen Teil der Information. In anderen Fällen ergibt sich die Schwere erst durch die schiere Anzahl der gemeldeten Verstöße – denken wir nur an Delikte sexualisierter Gewalt.

Täter können hiermit zudem aktiv die Aufklärung behindern. Eine große Anzahl geringwertiger Verstöße können mit Klarnamen gemeldet werden und so die Meldestelle „blockieren“ und die Bearbeitung des relevanten Verstoßes hinauszögern.

Warum diese Komplexität?

Im Entwurf werden die Bedenken geäußert, anonyme Meldungen könnten die Meldestellen durch ihre schiere Anzahl überfordern. Indirekt schwingt hier sicher das Argument der missbräuchlichen anonymen Meldung mit. Andernfalls müsste man annehmen, der Gesetzgeber hat Angst, Personen könnten tatsächlich Missstände melden. Dabei wird vergessen, dass wir bereits Erfahrungen mit anonymen Meldekanälen haben: fast alle DAX40 Unternehmen unterhalten IT-basierte Lösungen und berichten sehr positiv. Auch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht preist ihr anonymes, digitales Meldesystem, das seit 2017 besteht. Auf Länderebene gibt es zudem positive Erfahrungen bei Steuerbehörden und Landeskriminalämtern.

Es bleibt noch die im Entwurf enthaltende Begründung der „erhebliche[n] zusätzliche[n] Kosten“ anonymer Meldesysteme. Analog kann eine anonyme Meldung kostengünstig realisiert werden: die unterdrückte Nummer oder der anonyme Briefkasten. Korrekt ist aber, dass die technische Realisierung der Anonymität bei digitalen Meldestellen komplex ist. Besonders, wenn die Kommunikation mit der Hinweisgeber:in ermöglicht werden soll. Zum Glück regelt der Markt: die meisten zukaufbaren Meldesysteme bieten bereits anonyme Meldemöglichkeiten, die fast immer im Preis inbegriffen sind. Dieser richtet sich fast ausnahmslos nach Größe des Unternehmens. Anonymität kann durch IT-gestützte Systeme so problemlos gewährleistet werden, ohne auf die notwendige Kommunikation verzichten zu müssen. Zudem bieten technische Lösungen „Screening“-Möglichkeiten, durch die auch eine Priorisierung und Clusterung nach Inhalt möglich wird.

Warum bleiben Whistleblower anonym?

Die Gründe für anonyme Meldungen sind vielfältig und individuell. Oft liegt es am fehlenden Vertrauen in die Meldestelle, der unbekannten Person am Ende des Hörers, Bedenken vor Nachteilen im Beruf oder schlicht der Angst, als Verräter:in gebrandmarkt zu werden. Je größer der zugrundeliegende Verstoß, desto größer diese Bedenken. Anonymität dagegen reduziert solche Hürden. In den meisten Fällen geben Whistleblower zudem ihre Identität freiwillig preis, wenn sie Vertrauen aufgebaut haben.

Wie könnte ein besseres Gesetz aussehen?

Der Gesetzgeber könnte es sich einfach machen: Da die Richtlinie im Bereich 50 bis 249 Beschäftigte bereits viele Erleichterungen vorsieht, könnten zumindest alle Unternehmen ab 250 Beschäftigten verpflichtet werden, anonyme Meldungen zu ermöglichen und diesen nachzugehen. Das muss auch für alle externen Meldestellen gelten. Der Inhalt der Meldung wäre dann für die Priorisierung maßgeblich und nicht die Identität der meldenden Person. Der Rückgriff auf unbestimmte Rechtsbegriffe und komplexe Regelungen wäre damit überflüssig. Wenn die Förderung von Meldungen das Ziel sein sollte, dann ist dieses mit dem aktuellen Entwurf verfehlt: wenn Meldungen ignoriert werden dürfen und gar nicht erst ermöglicht werden müssen, fehlen uns wichtige Hinweise, um Missstände frühzeitig zu erkennen und abzustellen. Damit ist niemandem – außer den Tätern – geholfen.

Noch ist jedenfalls Zeit für Nachbesserungen: Denn der Regierungsentwurf muss als nächstes im Parlament diskutiert werden.

Autor: Dr. Sebastian Oelrich, LL.M.oec., forscht und lehrt an der Technischen Universität Dresden, Professur für BWL, insbes. Betriebliches Rechnungswesen/Controlling. Neben klassischen Themen des internen und externen Rechnungswesens unterrichtet er zu Wirtschaftsethik- und kriminalität. Seine Dissertation hat er zum Thema Whistleblowing aus verhaltensökonomischer Perspektive verfasst und beschäftigt sich in seiner Forschung mit Fraudprävention- und detektion. Er engagiert sich ehrenamtlich bei der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International im Bereich Hinweisgeberschutz.

- WERBUNG -