Fachartikel

Der empathische LegalTech-Computer

„Persönlich, individuell, vertrauensvoll. Eben typisch DocMorris“, lächelt die Dame von den Plakaten. Ein anderes Plakat zeigt unterschiedliche Patiententypen in der Apotheke: Eine Schwangere, eine alte Frau mit Rollator und einen Mann. Dort heißt es: „Andere sehen nur ihr Rezept. Wir sehen Sie.“ Die Antwort der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V., der Spitzenorganisation aller Apotheker also. Der Kampf um die besten Empathie-Werte wird auf Plakatwänden ausgetragen. DocMorris hat verstanden, wo die Achillesferse jedes Anbieters standardisierter Leistungen auf Distanz liegt. Das Unternehmen kämpft und das nicht ohne Geschick. Wer hätte schließlich Worte wie „persönlich“, „individuell“ oder „vertrauensvoll“ in diesem Kontext erwartet?

Persönlich und individuell: DocMorris?

Halten andererseits, so darf gefragt werden, Apotheken ihr Versprechen ein, „den Patienten“ zu sehen, gemeint also: individuell und persönlich zu beraten? Wer eine typische Apotheke betritt, wird nur in den selteneren Fällen inhaltlichen Beratungsgesprächen begegnen. Der Alltag ist dadurch nicht geprägt. Bei der Einordnung des Apothekerberufs wurde konsequenter Weise die Messlatte des „freien Berufes“ verfehlt. Anders als die in § 1 Absatz 2 des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes (PartGG) genannten Berufe steht bei Apothekern nämlich der kaufmännische Aspekt so klar im Vordergrund, dass das die Qualifikation entschieden hat. Apotheker können beraten – das können auch andere Gewerbetreibende häufig. Sie leben aber vom Verkauf. Soweit besondere Merkmale der Patienten eine Rolle spielen, eine Schwangerschaft etwa, sollte schon der verschreibende Arzt darauf geachtet haben, ansonsten steht darüber etwas im Beipackzettel. Und wenn man unterstellt, dass das ohnehin niemand liest, lässt es sich auf einfache Weise standardisiert abfragen.

Wer hat also Recht, DocMorris oder der Apothekerverband? Im Grunde keiner. Standardisierbare Leistungen wie etwa der Verkauf rezeptpflichtiger oder auch nicht rezeptpflichtiger Medikamente, Bonbons und Hilfsmittel werden in beiden Konstellationen soweit standardisiert wie möglich. Die herkömmliche Apotheke arbeitet mit effizienter Organisation und minimalem Personalaufwand und DocMorris geht es nicht anders. Der Unterschied: Die herkömmliche Apotheke setzt auf den Besuch ihrer Patienten.

„Wer ins Bett gehört, sollte nicht zur Apotheke müssen“, setzt DocMorris dagegen. Ist es nun ein Vorteil, dass Patienten zur Apotheke müssen, um sich dort die persönliche Beratung abzuholen, oder ist es eine Einbuße an Service und Einfachheit? Richtig ist hier mal die klassische Juristenantwort: „Es kommt darauf an.“ Wenn nur Standard-Leistungen abgefragt werden, reichen die Email und der Postweg. Wird es beratungsintensiv, nimmt der Patient den Weg in Kauf und wird zudem darauf achten, zu welcher Apotheke und zu welchem Apotheker er geht. Die Realität in Apotheken zeigt: Den Regelfall bilden Standard-Leistungen.

Nette Beifahrerin in Singapur

Szenenwechsel, Singapur, ein deutsches Unternehmen: Continental, einer der großen Automobil-Zulieferer. Ich bin auf dem Fahrersitz des Testautos angekommen, da meldet sich die Assistentin. Nicht die Blecherne, die man kennt: „Nach 300 Metern rechts abbiegen“ oder „Wenn möglich, bitte wenden!“ Sondern eine echte Frauenstimme, die mich fragt, wie es mir geht, ob ich ausgeruht in den Tag starte. Ich antworte und sage, auf ihre Frage hin, dass wir in die Kanzlei fahren. Sie fragt, ob sie lenken soll oder ich. Ich erwidere, dass ich erstmal ein wenig das Steuer haben möchte. Sie fragt nach Musik. Als ich Händels Messias nenne, ist sie begeistert, sie mag das auch. Nach ein bisschen Smalltalk willige ich ein, dass sie fährt, zumal sie mich gerade schon wieder – nett – ermahnt hat, doch nicht zu schnell zu fahren.

Psychologie des autonomen Fahrens

Elektronische Fahrassistenz, der man nichts mehr von Elektronik anmerkt. Die Autoindustrie ist natürlich schon viel weiter als andere. Dort geht es um den Weltmarkt des autonomen Fahrens. Wer in Kanada, im Silicon Valley oder eben in Singapur war, weiß, dass die technischen Aspekte zu guten Teilen geklärt sind. Mit Hochdruck wird jetzt an der Psychologie gearbeitet. Wie schafft man es, so lautet eine der Fragen, die Aufmerksamkeit des menschlichen Insassen so zu gewinnen und zu halten, dass er in Notfällen erreichbar bleibt? Wer sich in ein autonom agierendes Fahrzeug setzt, wird nämlich typischerweise von seinem Handy oder seinem Laptop in Beschlag genommen und verliert jeden Gedanken an die Welt drumherum. Das ist im Normalfall kein Problem, hat doch der Pkw alles selbst im Griff. Aber in Sondersituationen bedarf es noch menschlichen Eingreifens – und da kann es auf Sekunden ankommen.

Es gilt also, Kontakt zu halten. Mit Blech-Stimmen geht das kaum. Aber mit – fast – echten Beifahrern. Die Gesprächssituation ist vertraut. Sie schafft Vertrauen. Vertrauen des menschlichen Insassen in seine Assistenz – die ist schließlich wie er selbst. Fast.

Last der Zeugenvernehmung

Ein Gerichtssaal. Zeugenvernehmung. Das kommt ja, wenn man es nüchtern betrachtet, in vielen Rechtsbereichen erstaunlich selten vor. Wie oft erleben etwa wirtschaftsrechtlich aktive Anwälte wirklich noch Zeugen? Von 100 angebotenen Zeugenaussagen greift das Gericht vielleicht auf eine zurück. Warum ist das so? Kommt es tatsächlich so gut wie nie auf Zeugen an, sind die Angebote also fast in Gänze auf fehlerhafte Beurteilungen durch die Rechtsanwälte zurückzuführen, die jene Schriftsätze verfassen?

Zum Teil mag das zutreffen, zum Teil werden aus Vorsicht lieber zu viele als zu wenige Zeugen angeboten. Aber es darf bei realistischer Betrachtung wohl auch die richterliche Perspektive nicht außer Acht gelassen werden. Zeugen, das bedeutet Zeitverlust, eigens angesetzte Termine. Das heißt aber auch schwierige Vernehmungen, für die Richter in der Regel nicht geschult werden. „Forensische Psychologie“ ist ein Fach, das nur sporadisch angeboten wird und nicht examensrelevant ist. Als ich das Seminar dereinst besuchte, waren wir von Studentenseite zu zweit.

Psychologie der Vernehmung

Richter haben, wenn sie im Schwerpunkt Zivilrecht betreiben, keine nennenswerte Praxis auf diesem Gebiet. Wie sollen sie später begründen, warum sie meinen, ein Zeuge habe die Wahrheit – sagen wir – in ein anderes Licht getaucht? Wo steht im Urteil, dass ein Zeuge gelogen, der andere die Wahrheit gesagt habe, mit rationaler, wissenschaftlich abgesegneter Argumentation? Ist es ein Wunder, dass Richter oft Zeugenvernehmungen eher scheuen? Zeugen zu vernehmen, wird oft gesagt, das sei eine Kunst von Menschen. Sie könnten einschätzen, wie sich ein Zeuge verhalte, könnten die Glaubwürdigkeit erfassen, könnten gute Fragen stellen.

An der Stanford University im Silicon Valley wird gerade eine Brille für Autisten perfektioniert. In die Brillengläser wird dort eingeblendet, wie das Verhalten des Gegenübers einzuschätzen ist. Lacht die Person, ist sie fröhlich? Weint sie, schaut sie skeptisch, misstrauisch, offen, neugierig, verstört? Körperbewegungen, die auf die Psyche eines Menschen schließen lassen, werden en détail wahrgenommen und analysiert. Der Computer kann dabei nicht nur auf die vergleichsweise geringe Zahl von Erfahrungen zugreifen, die Menschen während ihres Lebens mit anderen Menschen sammeln. Sein Fundus an Gesichtszügen und Veränderungen ist schier unerschöpflich, seine durch nichts abgelenkte Beobachtungsgabe erfasst jede auch nur kleinste Bewegung. Wer wissen will, ob ein Zeuge lügt oder die Wahrheit sagt, ist deutlich besser beraten, auf den Computer zu hören als auf einen beliebigen Menschen.

Computer können nicht nur Bewegungen deuten, sondern auch Worte. Was nett klingt, welche Formulierung gerade angemessen erscheint, beruht auf Erfahrungswissen, das wir Menschen seit frühesten Kindertagen trainieren. Dabei sind wir bis in das hohe Alter hinein nicht vor dem faux pas gefeit. Unser Erfahrungsschatz ist schließlich endlich. Anders wiederum bei der Maschine: Sie kann mit beliebig vielen Worten – in jeder Sprache – und Kontexten gefüttert werden. Fehler werden deutlich seltener vorkommen, denn auch hier gilt: Der Computer ist nicht unausgeschlafen oder abgelenkt. Die leichteste Übung, freundlich und verbindlich zu kommunizieren.

Menschen schlagen LegalTech?

LegalTech, das ist (auch) standardisierte Rechtsberatung durch Computer. Oft wird dagegen eingewandt, Computer könnten anwaltlichen Rat niemals ersetzen. Anwälte seien empathisch, sie berieten individuell und persönlich. Wer so argumentiert, sieht sich unweigerlich kritischen Fragen ausgesetzt. Zunächst sei ein Blick in die heutige Realität gewagt. Darf wirklich als Standard unterstellt werden, dass Rechtsanwälte ihren Mandanten durchweg mit Empathie begegnen? Und zweitens: Will jeder Mandant für jedes Anliegen Empathie? Natürlich, ist man versucht, spontan zu erwidern, Empathie suchen wir Menschen in jeder Lebenslage. Gilt das aber auch noch, wenn die empathische Beratung spürbar komplizierter zu erlangen ist, durch Verlust an Service, Geschwindigkeit und einen höheren Preis erkauft werden muss?

Die wichtigste Frage aber lautet: Woher nimmt der LegalTech-Kritiker eigentlich die Sicherheit, dem Computer an empathischer Ausstrahlung im Standardfall überlegen zu sein? Es käme auf einen Versuch an: Mandanten zu bitten, ihr Anliegen per Email oder Telefon zu schildern und im Anschluss an das Gespräch oder die Korrespondenz zu beurteilen, wer sympathischer, wer einfühlsamer war. Dieser Test ist in Deutschland bislang nicht unternommen worden. Kaum zu prognostizieren, wer ihn gewönne.

Autor: Rechtsanwalt Prof. Dr. Volker Römermann, CSP

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