Braucht Legal Tech überhaupt ein Rechtsbedürfnis?
Während der definitorische Streit über Legal Tech wohl unerschöpflich sein dürfte, ist die Betrachtung, was Legal Tech leisten kann, deutlich einfacher. Es geht im Kern um Effizienz. Effizienz in der Sachverhaltsermittlung, Effizienz in der Rechtsdurchsetzung, Effizienz in der Ermittlung der Erfolgsaussichten. Wie diese Effizienz dann eingesetzt wird, ob zur betriebswirtschaftlichen Rationalisierung, zur Entwicklung neuer Rechtsprodukte als „access to justice“ oder zur stärkeren Kundenzentrierung, ist eine konzeptionell-strategische Frage und keine technische.
Um nicht in eine innersystemische Freude über einen fast zum Selbstwert stilisierten Effizienzgewinn als Universallösung defizitärer Rechtsdurchsetzung zu verfallen, sollte sich aus Sicht des Autors selbstkritisch die Frage gestellt werden, inwieweit sich das Verhältnis zwischen Rechtsdurchsetzung zum bisher zugrundeliegenden Rechtsbedürfnis („legal need“) verändert. Denn die Rechtsdurchsetzung ist in einer stetig verrechtlichten Gesellschaft das Werkzeug zur Problem- und Konfliktlösung.
Bereits Anfang der 1980er wurde der Erkenntnisprozess, der ein Rechtsbedürfnis bildet, prägnant in „Naming“, „Blaming“, „Claiming“ aufgeteilt. Es muss erst einmal ein Problem wahrgenommen werden („Naming“), das einem Verantwortlichen zugerechnet wird („Blaming“), um Ansprüche geltend zu machen („Claiming“). Das fortwährend empirisch nachgewiesene Problem, weshalb sich Individuen mit ihren Rechtsproblemen nicht an Rechtsdienstleister wenden: das Problem wird nicht als rechtliches Problem wahrgenommen. Das Rechtsproblem wird nicht zu einem Rechtsbedürfnis, weil der rechtliche Gehalt nicht erkannt wird. Ohne Rechtsbedürfnis besteht keine Nachfrage an einem Rechtsprodukt, das dann beispielsweise Legal Tech basiert u.a. das rationale Desinteresse an der Rechtsdurchsetzung überwinden mag.
Damit soll deutlich werden: wer sich auf den zweifellos wichtigen „access to justice“ konzentriert, dem muss bewusst sein, dass die eigene Kundengruppe die der Individuen ist, die bereits in der Lage war, ein Problem als Rechtsproblem zu klassifizieren und hieraus ein Rechtsbedürfnis zu entwickeln. Legal Techs und geschäftstüchtige Kanzleien drehen den Erkenntnisprozess des Rechtsbedürfnisses unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten um und „aktivieren“ oder „wecken“ Rechtsbedürfnisse erst.
Wie sieht das „Aktivieren von Rechtsbedürfnissen“ aus?
Das Individuum wird durch das „Claiming“-Angebot in Form des offerierten Rechtsprodukts mehr oder minder dezent darauf aufmerksam gemacht, dass ein Sachverhalt ihn zur Inanspruchnahme des Angebots berechtigen könnte. Die Offerte der Rechtsfolge (Schadenersatz, Minderung o.ä.) führt erst zur Kenntnis oder Beachtung des Sachverhalts.
Wer nun die eher kritisch konnotierte Industrialisierung der Rechtsdienstleistung bei der Aktivierung von Rechtsbedürfnissen herbeischreibt, dem sei entgegengehalten, dass marktwirtschaftliche Prinzipien auch vor den höheren Diensten der Rechtsberatung nicht halt machen. Das Wecken von vorher gänzlich unbekannten oder nicht existenten Bedürfnissen durch den Anbieter in Form von Werbung ist weder neu noch originell und gegenwärtig mit tausenden digitalen wie analogen Werbebemühungen auch im Rechtsdienstleistungsmarkt fest etabliert. Ob Verbraucher ohne die teilweise aggressiven Incentivierungen den Widerruf des Verbraucherdarlehensvertrages oder die Beitragsrückerstattungsmöglichkeiten der eigenen PKV gekannt hätten, dürfte zu bezweifeln sein.
Damit werden Rechtsbedürfnisse über das Angebot der Rechtsdurchsetzung aktiviert. Das Angebot schafft erst die Nachfrage. In diesem Zusammenhang ist der Aufsatz von Fries „Recht als Kapital“ (AcP 221 (2021), 108-137) eine hochgradig lesenswerte Lektüre, die der Autor zur leicht verstehenden Vertiefung der hier nur angeschnittenen Punkte herzlich empfehlen kann.
Doch dieser Prozess kann und sollte weiter gedacht werden. Kann es Rechtsdurchsetzung geben, bei der kein Rechtsbedürfnis mehr vorliegt, gewissermaßen als wirtschaftlicher Selbstzweck um ihrer selbst willen?
Rechtsdurchsetzung ohne Rechtsbedürfnis? Effektivster Rechtsschutz oder geschäftiger Selbstzweck?
Wenn neue Rechtsprodukte Rechtsbedürfnisse erst schaffen, erscheint es dem Autor konsequent, die Frage zu stellen, ob nicht sogar Rechtsprodukte zu entwickeln sind, die dieses Rechtsbedürfnis nicht mal mehr wecken müssen und sich insoweit unabhängig hiervon um die Rechtsdurchsetzung des Individuums bemühen.
Hierbei ist in Abgrenzung nicht vorrangig das Ziel des „Legal Fracking“ gemeint, also aus den kleinsten Lebenssachverhalten Ansprüche herauszupressen – um im sprachlichen Bild zu bleiben -, wenn dieses die Wahrnehmung und Kenntnis des Sachverhalts voraussetzt. Das vom sprachlichen Urheber Halmer häufig angeführte Beispiel eines zu langsamen Internetanschlusses ist ein Umstand, den der Betroffene wohl überwiegend leidvoll bemerkt, sich jedoch seiner Ansprüche nicht bewusst ist und die Rechtsdurchsetzung für Ansprüche im kleineren zweistelligen Eurobereich aufgrund seines rationalen Desinteresses nicht forcieren würde.
Ein Beispiel, bei dem kein Rechtsbedürfnis mehr aktiviert werden müsste: Es wäre technisch problemlos möglich, Beförderungsentgelte für unnötige Umwege eines Taxis oder Ubers mittels GPS- und Navigationsdaten und den Daten des abbuchenden Unternehmers vollautomatisiert und cent- und kilometergenau zurückzufordern, ohne dass der Kunde überhaupt den Sachverhalt eines Umwegs bemerkt hat oder dies für ihn von Bedeutung gewesen wäre.
Der Kunde würde durch den Rechtsdienstleister überhaupt erst auf den Sachverhalt und die Rechtsfolge des Rückforderungsanspruchs aufmerksam gemacht werden. Fries nennt dies beispielsweise das „Aufdecken der Rechtspositionen“. Es bestand vorher keine Kenntnis der Rechtsposition und nicht einmal die Kenntnis des anspruchsbegründenden Sachverhalts. Die Rechtsdurchsetzung könnte durch einen Rahmenvertrag ohne weitergehende Kenntnis des Anspruchsinhabers in dessen Namen geltend gemacht oder abgetreten werden. Es werden dann beispielsweise 2,45 € als Hauptforderung durchgesetzt, obgleich dem Gläubiger die Forderung unbekannt ist und kein Störgefühl in Form des Umweges vorlag.
Während die unterschiedlich überzeugenden Argumente zur Legal-Tech-basierten Anspruchsermittlung und -durchsetzung häufig das „wie“ der Rechtsdurchsetzung thematisieren, stellt die Rechtsverfolgung ohne Rechtsbedürfnis fast die Frage des „ob“. Der Grad zwischen dem Aufdecken der Rechtspositionen durch Incentivierungen der Rechtsdurchsetzung und der bedürfnisunabhängigen Rechtsverfolgung ist zweifelsfrei schmal. In vielen Fällen wird eine Differenzierung wohl nur noch davon abhängen, ob der Anspruchsinhaber überhaupt noch über seinen durchsetzbaren Anspruch informiert und damit das Rechtsbedürfnis geweckt wird oder der Anspruch im Hintergrund mittels Rahmenvereinbarungen ohne weiteres abgekauft wird. Recht wird damit noch stärker zum Kapital.
Während eingewandt werden kann, dass kein Rechtsschutzbedürfnis und noch weniger Rechtsdurchsetzungsdefizite für Rechtspositionen bestehen, die dem Anspruchsinhaber schon nicht bekannt sind, kann umgekehrt angeführt werden, dass der Anspruchsinhaber hier besonders benachteiligt und damit schutzwürdig ist, weil er schon den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht erkennt und insoweit noch nicht einmal ein Bewusstsein hinsichtlich der ihm zustehenden Rechtsposition in einer immer stärker verrechtlichten Lebenswirklich bilden kann.
Die Aberkennung des Rechtsschutzbedürfnisses bedürfte auch im Falle einer bedürfnislosen Rechtsverfolgung einer beachtlichen Begründungstiefe. Denn hierbei darf, um auf den Anfang zurückzukommen, nicht verkannt werden, dass derartige Diskussionen nicht innersystemisch auf die „rechtliche Konfliktlösung“ beschränkt geführt werden dürfen. So führt beispielsweise die 2019 veröffentlichte „Legal needs and access to justice“ Studie der OECD an, dass ein signifikanter Anteil der Befragten keinerlei Maßnahmen zur Problemlösung initiiert (bis zu 44% in der ukrainischen Legal Needs Studie, im Schnitt zwischen 10-20%). Hier muss sich dann in Ansehung dessen gefragt werden, ob so lange zugewartet werden soll, bis bestenfalls das Rechtsbedürfnis gebildet bzw. aktiviert werden kann, oder ob mit einer fast paternalistischen Haltung das Individuum wo immer möglich vor aufkommenden Rechtsbedürfnissen bewahrt werden soll.
Fazit
Aus Sicht des Autors ist es zur Differenzierung des Diskussionsgefüges zu den „access to justice“ Aspekten sinnvoll, die Frage des Grades einer Aktivierung / Incentivierung / Aufdeckung der Rechtspositionen zu berücksichtigen.
Die insoweit seit den 1980er entwickelten Denkansätze dürften mit einer Veränderung des Rechtsmarkts neu aufgegriffen und mit einer zunehmenden Technisierung und Integration in den Verbraucheralltag weiterentwickelt werden, nicht zuletzt weil auf diesen Annahmen weitreichende, neue Geschäftsmodelle entwickelt werden können.
Autor: Der Autor, Tim Platner, ist Jurist und Geschäftsführer der Legal Data Technology GmbH, die mit einem interdisziplinären Team aus Juristen und Informatikern Legal Tech Lösungen und neue Rechtsprodukte entwickelt.