Fachartikel

Alles wird gut – oder „der Sklerose entgegen“?

Die Bundesregierung hat verkündet, was sie für die Digitalisierung plant. Spoiler Alert: Da kommt nicht viel. Man muss sogar bezweifeln, dass die Ampel weiß, was Digitalisierung bedeutet. Von ihrer Digitalstrategie scheint sie sich ohnehin verabschiedet zu haben.

Meseberg ist ein Ort etwa 70 Kilometer nördlich von Berlin. Der Ort gehört zur Gemeinde Gransee und liegt am östlichen Zipfel des Huwenowsees. Dort liegt das Schloss Meseberg, ein Gästehaus der Bundesregierung, in dem diese auch ihre Klausurtagungen durchführt. Da die Ampel-Regierung oft uneins ist, wohin die Reise gehen soll, erwarten die Rechts- und Politikunterworfenen von diesen Klausurtagungen, die auch „Therapiesitzungen“ genannt werden, weiterführende Hinweise über das Regierungshandeln. Die gab es auch. Viel war es nicht, die Reaktionen in der Presse reichten von sehr kritisch bis nicht positiv. In der NZZ hieß es, dass der „Bürokratie-Irrsinn“ erhalten bleibe, in der FAZ keilte ein Kommentar, die Bundesregierung treibe Deutschland „Der Sklerose entgegen“. Nun sind NZZ und FAZ zugegebenermaßen keine Fangirls der Ampel. Aber auch die regierungsfreundliche Berichterstattung war sehr zurückhaltend. Der ARD-Deutschlandtrend verortete am 31.8. den „Zuspruch für Ampel auf neuem Tiefstand“.

Bürokratieabbau, die 4.

Hier soll es nur um die Digitalisierung gehen. Der Justizminister präsentierte ein achtseitiges Eckpunktepapier für ein weiteres Bürokratieentlastungsgesetz, das BEG IV. Es ist nach 2015 das vierte seiner Art, und ich muss zugeben, dass das BEG I-III an mir vorübergegangen ist. Gab es tatsächlich schon Bürokratieabbau?

Maßnahmen, die jetzt kommen sollen, sind größeren und kleineren Kalibers, geplante Änderungen des Bundesberggesetzes zur Nutzung der oberflächennahen Geothermie stehen gleichberechtigt neben dem Versprechen, die handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungspflichten für Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre zu verkürzen oder die Hotelmeldepflicht für deutsche Staatsangehörige abzuschaffen (man wird spätestens im Gesetzgebungsverfahren merken, dass dieses Versprechen innerhalb der EU möglicherweise diskriminierend ist). Immerhin soll der Rechtsverkehr für Bürger und Wirtschaft „vereinfacht und weitmöglichst digitalisiert“ werden, was wiederum durch die Abschaffung von Schriftformerfordernissen und den Ersatz durch Textform ermöglicht werden soll. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Menschen und Unternehmen in Deutschland und Europa schon heute elektronisch kommunizieren, klingt das nicht so bahnbrechend, aber immerhin: Dass an dem Schriftformerfordernis gerührt wird, muss man wohl begrüßen.

„Digitalisation“ und „Digitisation“

Aber die Bundesregierung wäre nicht die Bundesregierung, wenn sie ihr Vorhaben nicht nachgerade unbeholfen, fast skurril präsentieren würde. Es heißt im Eckpunktepapier:

Soweit zivilrechtliche Schriftformerfordernisse fortgelten oder die Schriftform als Ersatzform gewählt wird, sollen digitale Technologien als Unterstützung und Brücken-Technologie eingesetzt werden können, soweit dies sachgerecht und angemessen ist. Künftig soll es möglich sein, zum Beispiel eine schriftliche Kündigung eines Mietverhältnisses mit einem Smartphone zu fotografieren und diese elektronische Kopie dem Erklärungsempfänger zu übersenden. Die besondere Beweisfunktion der Schriftform soll dadurch gewahrt werden, dass dem Erklärungsempfänger das Recht eingeräumt wird, die Übermittlung einer Originalurkunde nachträglich zu verlangen. Den Besonderheiten des Arbeitsrechts wird Rechnung getragen.

Zunächst: Da wird nicht regiert, da werden Befindlichkeiten moderiert. Und: Soll das Digitalisierung sein? Die wirksame Erklärung per Smartphone oder E-Mail ist hier nicht vorgesehen, eine Kündigung muss ja offenbar als separates Dokument existieren, bevor sie fotografiert wird. Nur der Übermittlungsweg wird vereinfacht – oder auch nicht, denn: Nach wie vor soll ein Empfänger verlangen können, eine Originalurkunde per Post zu erhalten. Das ist die allerkleinste Münze der Digitalisierung, wenn es überhaupt dazu gehört. In der englischen Sprache würde man das hier allenfalls „Digitisation“ nennen, also die Verwandlung eines analogen Schriftstücks in eine digitale Datei. Die „Digitalisation“ ist etwas anderes: Sie setzt die „Digitisation“ voraus, eröffnet aber damit völlig neue Möglichkeiten des Rechtsverkehrs und der Kommunikation generell. Sie erfordert aber auch Bereitschaft zur Änderung.

Bloß nichts ändern

Vermutlich ist es das, was man als zäh, lahm und dilettantisch empfindet – dass in Deutschland trotz einer sich mehr und mehr digitalisierenden Welt die Dinge so bleiben sollen, wie sie nun mal sind. Das gilt insbesondere für Verwaltungsabläufe, die nur in einer analogen Welt logisch sind, aber dennoch beibehalten werden, abgesehen von der Schaffung einer elektronischen Schnittstelle. Ist das alles, was „die“ können? Fairerweise muss man wohl eher fragen: Ist das alles, was „wir“ können? Sind wir so veränderungsresistent, dass es ausgeschlossen ist, die mit der Digitalisierung verbundenen Änderungen anzugehen?

Digitalstrategie – noch relevant?

Was ist aus der Digitalstrategie der Regierung geworden, die genau ein Jahr vor Meseberg verkündet wurde? Im August 2022 hieß es, dass bis 2025 erreicht bzw. umgesetzt wäre:

  • Die Hälfte aller Haushalte und Unternehmen hat Glasfaseranschlüsse.
  • Verwaltungsleistungen sind mit Hilfe staatlicher, digitaler Identitäten digitalisiert.
  • Es gibt ein chancengleiches, barrierefreies Bildungs-Ökosystem als Angebot für alle Lebensphasen.
  • Die elektronische Patientenakte wird von mindestens 80% der gesetzlich Krankenversicherten genutzt und das E-Rezept als Standard etabliert.
  • Für die Nutzung von Daten wurde ein moderner Rechtsrahmen geschaffen und Datenräume werden besser vernetzt.
  • Deutschland hat sich auf europäischer und internationaler Ebene für ein Internet als freien, demokratisierenden Raum mit einer globalen, digitalen Ordnung auf Basis der Menschenrechte eingesetzt.

Davon ist in dem Eckpunktepapier keine Rede. Ampelfreunde werden einwenden, es gehe dort ja auch um Bürokratieabbau. Unsereins würde entgegnen, dass das keinen Unterschied mache, denn Bürokratieabbau und Digitalisierung sind zwei Seiten einer Medaille. Vielleicht wäre es nicht schlecht gewesen, wenn die Bundesregierung nur dokumentiert hätte, was sie in der Umsetzung ihrer Digitalstrategie bereits alles erreicht habe. Man ahnt, warum das unterblieben ist. Stattdessen ein BEG IV, an das sich vermutlich viele weitere anschließen werden.

Epilog

„Den Besonderheiten des Arbeitsrechts wird Rechnung getragen“ heißt es zwei Mal im Eckpunktepapier. Das lässt nichts Gutes ahnen: denn im Arbeitsrecht gibt es seit Jahrzehnten eher ideologisch als sachlich begründete Schriftformerfordernisse. Anstatt sie abzubauen, hat die Bundesregierung im Jahr 2022 mit der Verschärfung des Nachweisgesetzes weitere Schriftformerfordernisse geschaffen. Das Eckpunktepapier lässt erkennen, dass daran nicht wesentlich gerüttelt wird.

Autor: Markus Hartung ist Rechtsanwalt in Berlin. Zu seinen Themen gehören die Digitalisierung des Rechtsmarkts und der Rechtspflege sowie das anwaltliche Berufsrecht. Er ist Mitherausgeber und Autor in „Legal Tech. Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“, das im Jahr 2017/18 das erste Buch war, das sich eingehend mit diesen Themen befasst hatte. Zuletzt hat er im Stichwortkommentar Legal Tech die Bereiche B2B/B2C-Geschäftsmodelle beschrieben und bereitet die 2. Aufl. eines Beitrags zur berufsrechtlichen Verträglichkeit Künstlicher Intelligenz vor. Mehr bei www.markushartung.com

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