Fachartikel

Wieso der gesamten Legal Tech Branche mit dem AI-Hype geholfen ist

Artificial Intelligence (AI), Blockchain und Metaverse. Das sind einige der populärsten Tech-Hypes der vergangenen Jahre. Durch die Entwicklungen der letzten Monate ist das Thema AI viel stärker ins Rampenlicht gerückt. Es scheint ein Hype auf dem Hype zu liegen. Das hat fast nur Vorteile.

Von den verschiedenen Tech-Hypes in der Vergangenheit, ist der aktuelle AI-Hype mit am besten zu ertragen. Erstens, weil der Zugang für End-User – anders als bei den Hype-Themen Blockchain und Metaverse – sehr einfach ist. Nicht nur mit ChatGPT und seinesgleichen, auch mit dem Bildgenerator Dall-E können User sehr schnell erste Erfolge erzielen oder zumindest ein Gefühl bekommen. Und Zweitens weil sich dieser Hype lange abgezeichnet hat. Das Einzige was schwer fällt, ist es den exponentiellen, technischen Fortschritt zu verstehen, bzw. zu sehen. Dafür hilft ein kurzer Blick zurück. Heute nehmen wir Übersetzungsprogramme, Autovervollständigung (auf dem Smartphone), aber auch die Verwendung diverser Cloud-Services – auch im juristischen Umfeld – fast schon als selbstverständlich wahr. Dieser Blick zeigt sicherlich den technischen Fortschritt, nicht aber die exponentielle Entwicklung.

Sichtbarkeit von exponentieller Entwicklung

Auch hierfür war die Kommunikation von OpenAI in den letzten Monaten sehr hilfreich: als manche Juristen das erste Mal von ChatGPT oder GPT-3 gehört haben, war es auch schon kurz vor der Veröffentlichung von GPT-4 mit einer 100x höheren Leistungsfähigkeit. Ein Hype an sich kann neben aller Euphorie aber auch Unsicherheit, Skepsis und Überheblichkeit erzeugen.

Ohne sich ein eigenes Bild zu verschaffen, ist die Beantwortung der verunsicherten Frage „was bedeutet das für mich und meine Arbeit in naher und ferner Zukunft“ nicht möglich. Eine längerfristige, eigene Einschätzung ist bei der Schnelllebigkeit des Themas mehr als schwierig. Neben Unsicherheit erzeugt das Skepsis, die insbesondere durch Social Media befeuert wird. Neben den kritischen Betrachtungen, bringen aber gerade euphorisch vorgetragene Erkenntnisberichte weitere Skepsis mit sich. Die euphorischen Berichte haben aber noch eine weitere Reaktion hervorgerufen: „Das klappt ja doch noch nicht so richtig“. Diese Überheblichkeit blendet neben dem oben angesprochenen zu erwartenden Fortschritt, eine Tatsache aus: Wir haben in der Digitalisierung der Rechtsbranche nicht nur Arbeiten am juristischen Hochreck zu verrichten.

Eine Vielzahl von Automatisierungs-, Dokumentenschwärzungs- und Daten Extraktions-Anbietern zeigt, dass wir heute immer noch ganz einfache, repetitive Arbeit in einem Höchstmaß ineffizient und fehlerträchtig von Menschen verrichten lassen. Diese Arbeit – viele Daten, gleiche oder sehr ähnliche Aufgaben, in einem abgesteckten Feld, meist mit vorher abschließend definiertem Ausgang und kalkuliertem Risiko ist in Rechtsabteilungen, aber auch Justiz und Verwaltung noch lange nicht abgeschlossen bzw. automatisiert.

Tech Talk, statt Klartext

Zusätzlich ist zu befürchten, dass die Legal Tech Welt in den vergangenen Jahren versäumt hat, eine sich neu abzeichnende Digitalisierungswelle auf den richtigen Weg zu bringen. Es wurden komplexe, nicht für die Kommunikation untereinander geeignete Systeme geschaffen – so zum Beispiel das besondere elektronische Anwaltspostfach. Dazu haben wir noch einen Haufen von Vokabeln auf die Legal Tech User geworfen – sie müssen sich mit Begriffen wie Contract Lifecycle Management auseinandersetzen. Auch der Begriff Legal Design Thinking ist – bei einer gewissen inhaltlichen Daseinsberechtigung – eine weitere, sperrige Vokabel. So kommt es, dass technikaffine Juristen heute nach technischen Schnittstellen / APIs (Application Programming Interface) rufen um damit eigentlich nur zu veranschaulichen, dass wir immer noch mit technischen Insellösungen (Cluttered Environment) arbeiten. Bis heute kommt es vor, dass Dokumente mühsam aus der Cloud lokal heruntergeladen werden und dann wieder in eine solche hochgeladen werden müssen. Rechtsabteilungen, Kanzleien, Behörden und Gegenparteien nutzen oft unterschiedliche Lösungen und sind dadurch zunächst mit gemeinsamer Plattformsuche beschäftigt statt sich unmittelbar der Arbeit zu widmen. Die Arbeit wird entgegen der Natur technischer Lösungen an gewissen Stellen also verlangsamt und erschwert.

Mangel an Standards schafft komplexes Setup – Lücke unmöglich zu füllen

Übergreifende Standards gibt es nicht. In der Vergangenheit sind solche Standards häufig von großen Technologieanbietern etabliert worden (z.B. Microsoft Word) und tatsächlich häufig im Open Source Umfeld entstanden, oder später dorthin gewandert. Auch wenn genau das bei OpenAI nicht funktioniert hat, sind viele Prinzipien im Kontext AI auf Open Source Basis nutzbar, allein der Zugang ist noch schwierig und momentan für End-User nur proprietär möglich.

Die sich momentan abzeichnende Lücke, klafft zwischen einfach zugänglichen End-User-Lösungen und nicht durchgeführter, oder sogar abgebrochenen Digitalisierungsmaßnahmen, wie Data Extraction, Redaction, Document Review und Contract Automation.

Ein weiteres Beispiel sind die o.g. Contract Lifecycle Management Systeme in Rechtsabteilungen, aber auch das wirklich alte, nicht unbedingt reife Wissensmanagement in Rechtsabteilungen und Kanzleien, aber auch Justiz und Lehre. Die Digitalisierung ist an dieser Stelle noch in keiner Weise abgeschlossen.

Neben allen anderen Bedenken, ergibt sich auch für den kurzfristigen, produktiven Einsatz von Künstlicher Intelligenz wieder das Problem der Insellösungen: unsaubere Daten, gespickt mit datenschutzproblematischem Personbezug und ggf. Intellectual Property, werden ihren Weg nur schwerlich oder ungeschützt in einen (proprietären) AI-Topf finden.

Unerwartete Rettung ist nah

Doch Rettung ist nah: Dem Blockchain-Hype wurde nachgesagt eine Lösung für ein noch nicht vorhandenes Problem zu liefern. So wird uns AI mindestens die Phantasie geben, dass die dahinterstehende Technologie in der Lage ist, dieses Problem selbst zu lösen. Momentan sträuben bzw. sperren sich Techplattformen wie StackOverflow noch gegen automatisierte Antworten der Maschinen, faktisch können Systeme wie ChatGPT aber komplexe, ermüdende Programmieraufgaben in letztlich jeder Programmiersprache erledigen. Warum sollten wir o.g. Lücke zwischen der schönen, neuen Welt und den lästigen, versäumten Hausaufgaben nicht mithilfe eben dieser schönen, neuen Welt gelöst bekommen (lassen)?

Die oben genannte fehlende Automatisierung, die lästigen Aufgaben wie Tagging von Knowledge-Dokumenten, aber auch die Schwärzung (Anonymisierung) von Dokumenten um sie AI-verarbeitbar zu machen sind doch genau die Aufgaben, die wir jetzt endlich und zusammen (Mensch und Maschine) lösen können. Auch das Erzeugen von den oben angesprochenen, geforderten Schnittstellen ist sicherlich eine Aufgabe, die von einer AI-Lösung geliefert werden kann.

Bei allem Blick auf ethische Prinzipien, kommende Europäische Gesetzgebung und persönliche Befürchtungen, geht dies sicherlich nicht schon heute, technisch aber sehr wahrscheinlich schon heute Nachmittag.

Autor: Henrik Wehrs berät bei Allen & Overy LLP als Senior Legal Tech Manager Europe Anwältinnen und Anwälte, sowie Mandanten beim Einsatz und der (Weiter-)Entwickung von Technologie-Lösungen und -Produkten. Er ist Lehrbeauftragter zum Thema Legal Tech & Innovation und Legal Operations an der Goethe Universität in Frankfurt, sowie der Frankfurt University of Applied Sciences.

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