Fachartikel

„Sie nannten es Legal Tech“ – Interview mit Legal Tech-Experte Tom Brägelmann

Tom Brägelmann ist, insbesondere seitdem der Begriff „Legal Tech“ in Deutschland populär wurde, als Autor und Fachmensch zur Digitalisierung der Rechtsbranche bekannt geworden. Er veröffentlichte Beiträge in diversen Legal Tech Büchern („Rechtshandbuch Legal Tech“, „Legal Tech – Die Digitalisierung des Rechtsmarkts“) und gab die Rechtshandbücher „Smart Contracts“ und „Artificial Intelligence und Machine Learning“ mit heraus. Innerhalb der letzten Wochen traf LTV Herausgeber Patrick Prior ihn zum virtuellen Interview.

Patrick Prior: Lieber Tom, Du bist seit vielen Jahren im Bereich Legal Tech einer, der in Deutschland mit einigen Veröffentlichungen zu diesem Thema mitdenken möchte. Was hat sich seit den Anfangsjahren 2015/2016 verändert?

Tom Brägelmann: Oh danke für die Blumen, aber ich bin nicht weiter wichtig in dem Bereich. 2017 war ich mal eine Weile General Counsel bei einem Legal Tech Unternehmen, aber das ist lange her, auch wenn es sehr lehrreich war. Aber ich beobachte immer noch etliches, denke mit, halte Kontakt und berate hier und da auch Legal Tech Unternehmen in verschiedenen Lebenslagen. Verändert haben sich glaube ich zwei Sachen: einerseits gibt es nicht mehr diesen maximalen Anspruch samt entsprechendem Auftreten („we will bury you“) mancher Legal Tech Unternehmer, welche im Prinzip gleich die ganze Anwaltschaft abschaffen wollten und dies als unvermeidlich darstellten. Auf der anderen Seite ist sowohl in der Justizverwaltung, in der Richterschaft, aber auch bei den Kanzleien das Bewusstsein ganz klar vorhanden, dass man mit digitalen Werkzeugen nicht nur arbeiten muss, sondern es sogar besser geht, wenn es Spaß macht. Jura macht dann auf einmal Freude… Hoffentlich, nicht immer, manche Sekretariate können da ihr Leid klagen, weil immer mal wieder die Digitalisierung die Arbeit der Anwaltschaft erleichtert, aber die Arbeit der Kanzlei-Sekretariate hakeliger macht.

Patrick Prior: Ist die anfängliche Befürchtung vieler Anwält:innen, dass ihre Arbeit demnächst durch Software ersetzt werden soll, in greifbarer Nähe oder überhaupt zu erwarten? Große Durchbrüche im Bereich “Legal Tech KI” sind ja bis heute nicht erfolgt.

Tom Brägelmann: Nein, das ist nicht zu erwarten, jedenfalls genauso wenig, wie eine Landung der Außerirdischen. Es kann natürlich immer passieren, insbesondere, dass irgendwann eine superschlaue KI um die Ecke kommt und uns Anwält:innen alle platt macht, aber das erwarte ich jetzt nicht. Mittlerweile haben auch die Vordenker, zum Beispiel Susskind, erkannt, dass menschliche Anwält:innen und Richter:innen nötig sind, um konkrete Rechtsregeln auf einen konkreten Fall anzuwenden, dann ist, abgesehen von einfachen Fällen, eben nicht nur immer der zugrundeliegende Sachverhalt zu klären (Wesentliches vom Unwesentlichen trennen), was schon die Anwendung komplexer Rechtsregeln erfordert, sondern eben auch eine Rechtslage erst einmal festzustellen und zu konstruieren, bevor man sie anwendet. Selbstverständlich gibt es Massenverfahren, wo das kaum oder nicht besonders effektiv nötig ist. Aber in den meisten Fällen, in denen die Menschen jetzt zum Anwalt oder vor Gericht gehen, geht es darum, Rechtsregeln auf einen Sachverhalt anzuwenden. Dieser Sachverhalt wird eben nach rechtlichen Regeln vermittelt, ist aber grundsätzlich erst einmal nicht bekannt und liegt auch nicht in einer strukturierten Form von Daten vor, sondern muss erst einmal auch erzeugt werden. Ein weiterer Punkt ist: Der Gesetzgeber ist wirklich sehr aktiv auf der Ebene der EU, aber auch in Deutschland (z.B. neues Restrukturierungsrecht, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz), und zu vielen neuen Regeln gibt es wenig Literatur, geschweige denn Rechtsprechung. Dennoch muss auch dazu immer und sofort Rechtsberatung und Rechtsanwendung erfolgen. Mit dem Risiko, dass diese bald wieder als falsch/rechtswidrig festgestellt wird. Das will man einfach nicht dem Computer überlassen, auch wegen des Haftungsrisikos.

Patrick Prior: War deiner Ansicht nach die Pandemie ein großer Treiber der Digitalisierung der Rechtsbranche?

Tom Brägelmann: Ja, weil sich jetzt auch mehr Leute daran gewöhnt haben, die Sachen, die man zum Beispiel per Zoom oder Teams erledigen kann, auch wirklich per Zoom oder Teams zu erledigen. Ich finde menschliche Treffen in Präsenz sehr schön, wenn sie eben nötig sind, aber nicht immer sind sie nötig. Vor allem darf man nicht vergessen: Nicht alle Menschen fühlen sich komfortabel mit physischen Treffen. Für diese waren jetzt die vermehrten Videokonferenzen vielleicht sogar ein Segen und eine Gelegenheit, sich gut zu fühlen und besser in solchen virtuellen Meetings mitarbeiten zu können. Nach der Pandemie wird es hoffentlich bei einem guten Mix bleiben.

Patrick Prior: Du bist neben deiner Leidenschaft für Legal Tech Rechtsanwalt bei der Kanzlei Schalast. Wie häufig und welche Software verwendest du bei der täglichen Arbeit?

Tom Brägelmann: Also ich verwende täglich mehrmals Zoom, Teams, Dragon/Nuance, Lexolution, Office 365, Dischord und Threema, unter anderem.

Patrick Prior: Wie siehst du die Zukunft für reine Legal Tech Unternehmen für Verbraucher in Deutschland, wie z.B. LexFox (wenigermiete.de) oder Chevalier (Arbeitsrecht Arbeitnehmer)? Werden diese in den nächsten Jahren ganze Teile der Rechtsbranche verändern und damit Anwält:innen in diesen Rechtsgebieten auf Dauer ablösen?

Tom Brägelmann: In einigen Teilbereichen werden diese riesig stark werden, und sehr eng mit einigen wesentlichen Anwaltskanzleien kooperieren. Vermutlich werden sich einige auch zu einem größeren Verbund zusammenschließen, nicht unbedingt zu einem einheitlichen Unternehmen, aber zu einer Art Netzwerk oder Legal Tech-App-Store, so wie Kanzleien ja auch, wie zum Beispiel Schalast mit Multilaw, sich international unter einem Netzwerk, Dach oder einer Dachmarke, versammeln.

Patrick Prior: Welche Rolle spielt hierbei das neue Legal Tech Gesetz (genauer: „Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt“)? Findest du dieses eine gute und gerechte Lösung?

Tom Brägelmann: It’s complicated. Kritisch an der neuen Gesetzesreglung ist, dass sie partiell vorläufig ist. Es wurde schon angekündigt, dass es noch eine größere Reform werden soll. Warum dem Gesetzgeber hier der Mumm zum großen Entwurf gefehlt hat? Letztendlich waren es dann wohl politische Differenzen zwischen SPD und CDU. Ob das nach der Bundestagswahl besser wird? Die ganze Regulierung des Rechtsberatungsmarktes krankt meiner Meinung nach immer noch daran, dass es das Rechtsberatungsmonopol für Anwält:innen gibt, was in vielen Bereichen ja auch wirklich richtig und wichtig ist, aber in anderen vielleicht auch nicht, who knows? Belastbare Studien gibt es dazu m.E. nicht, evtl. sind sie auch nicht möglich. Man kann ja wohl kaum in der Art einer Vergleichsstudie das Rechtsberatungsmonopol in Brandenburg abschaffen, in Berlin bestehen lassen, und nach einem Jahr vergleicht man, wo es mehr guten Zugang zum Recht gab. Aber da wird eben drum gerungen. Ein Problem ist immer noch, dass Anwaltskanzleien eben nur von Anwält:innen betrieben und erworben werden können, auch wenn es da jetzt einige Öffnungen gibt. Das macht den Aufbau eines Unternehmens als Anwaltskanzlei aber schwierig, weil sie eventuell Schwierigkeiten haben werden, genügend Kapital aufzunehmen, beziehungsweise zu einer passenden Zeit ihr Unternehmen an jemanden zu verkaufen, der es danach größer und erfolgreicher machen kann oder in ein größeres Unternehmen integriert.

Patrick Prior: Was würdest du Anwält:innen raten, die sich jetzt am Anfang ihrer Karriere befinden und sich selbständig machen wollen? Wie digital muss deren Geschäftsmodell sein?

Tom Brägelmann: Vermutlich sind die jungen Anwältinnen und Anwälte schon von selber sehr digital unterwegs und deren junge Mandantschaft auch. Für die ist ja schon E-Mail ein absterbendes traditionelles Kommunikationsmedium für Menschen über 40 Jahren, eher sogar noch über 50, also so wie für mich am Anfang meines anwaltlichen Berufslebens mit der Schreibmaschine getippte Schreiben gerade aus der Mode gekommen waren. Interessant finde ich zum Beispiel, dass sich viele junge Anwält:innen sehr explizit und exponiert auf Instagram bewegen, mit allgemeinen rechtlichen Hinweisen und sehr persönlichen Geschichten. Das fällt den älteren Anwält:innen, selbst wenn sie digital unterwegs sind, schwer. Aber wenn die Mandantschaft es so möchte? Whatever works.

Patrick Prior: Wie sind deine Erfahrungen zum Thema „Legal Tech in Rechtsabteilungen“?

Tom Brägelmann: Die Rechtsabteilungen haben häufig den Vorteil, dass sie nicht nur Geld für Legal Tech haben, sie haben auch regelmäßig mehr Anwält:innen, die sich in verschiedenen Rechtsgebieten auskennen. Da in Rechtsabteilungen nicht die Konkurrenz herrscht, wie zum Beispiel in Kanzleien, wo alle noch Partner werden wollen, kann in Rechtsabteilungen unter Einsatz von moderner Software ein schönes, kollaboratives Arbeiten möglich sein. Ob es immer so ist? Dazu muss aber schon mal die (Legal Tech-)Software auch funktionieren. Ich kenne durchaus etliche Fälle, in denen Rechtsabteilungen sich wunderbare Software-Lizenzen angelacht haben und dann diese kaum benutzt wurden. Warum wurden diese kaum benutzt? Weil der Rest des Unternehmens nicht gefragt wurde oder dann mit der neuen Software nicht klar kam. Die Rechtsabteilung ist eben keine zauberhafte Insel sondern u.U. eine nicht immer intern beliebte Kostenstelle. Deswegen muss sie häufig auch mit den Softwarelösungen vorlieb nehmen, die der Rest des Unternehmens benutzt. Und wenn es auch nur Slack ist – Slack ist ja in Softwareunternehmen und im Journalismus sehr beliebt – Jurist:innen fremdeln m.W. damit, auch jüngere, das weiß ich aber nur anekdotenhaft.

Über den Interviewten: Tom Brägelmann ist ein international erfahrener Restrukturierungsexperte. Als Wirtschaftsanwalt ist er sowohl in Deutschland als auch in den USA als Anwalt zugelassen. Er war auch über drei Jahre als Anwalt für Bankruptcy/Insolvenz- und Urheberrecht in New York City tätig. Brägelmann ist überdies bestens vertraut mit den neuesten technologischen Entwicklungen in der Rechtsberatung, insbesondere mit der weltweiten Digitalisierung des Wirtschaftsrechts.

Foto: © Brita01 / Bigstock

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