Fachartikel

read.your.rights – Zugang zum Strafprozess für alle Beschuldigten durch Legal Tech

In Deutschland existiert eine erhebliche Lücke, was den Zugang zum Recht in Strafsachen angeht. Das Problem liegt in der Unterscheidung des Gesetzgebers darüber, wem ab Beginn des Verfahrens ein Pflichtverteidiger zusteht und wem nicht. Im Regelfall wird ein Pflichtverteidiger erst beigeordnet, wenn ein Strafmaß von über einem Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist, vgl. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO. Aufgrund der oftmals zu geringen Straferwartung kommt vielen Angeklagten (insb. vor dem AG) das Privileg einer Pflichtverteidigung nicht zugute. Es existieren zwar Ausnahmefälle, in denen ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden kann, vgl. § 140 Abs. 1 StPO. Diese Szenarien sind jedoch die Ausnahme und nicht der Regelfall.

Die Tragweite dieser Unterscheidung ist für das tatsächliche Leben der Beschuldigten immens. Ab einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen gilt man in Deutschland als vorbestraft. Eine Vorstrafe kann sich auf Ausbildungs- und Berufschancen, Kreditvergabe, Wohnungsmöglichkeiten usw. auswirken. Viele Beschuldigte haben ohne Verteidiger keine Chance, aktiv einem höheren Strafmaß und damit einer Vorstrafe entgegenzuwirken. Grund hierfür ist der mangelnde Zugang und das daraus resultierende mangelnde Verständnis des Strafprozesses. Die Beschuldigten verstehen nicht, was überhaupt passiert und wie das Verfahren abläuft, geschweige denn, welche Rechte Sie zu ihrer Verteidigung geltend machen können und welchen Pflichten sie unterliegen. An dieser Stelle noch nicht eingerechnet sind jene Beschuldigte, die aufgrund fehlender Deutschkenntnisse von vornherein keine Chance haben, aktiv am Verfahren mitzuwirken.

Diese angesprochene Gerechtigkeitslücke wurde auch von den Koalitionsparteien erkannt. Im Koalitionsvertrag 2021 von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP heißt es auf S. 106:

„Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher.“

In dieser Passage wird demnach eben dieser ungleiche Zugang zu einer effektiven Verteidigung aufgegriffen. Ein Lösungsweg wird allerdings nicht angedacht. Jedem Beschuldigten ab dem Beginn der 1. Vernehmung einen Verteidiger zu stellen, wäre sicher die wünschenswerte Lösung, ließe sich jedoch sowohl finanziell als auch personell nur schwer umsetzen. Die Pflichtverteidiger arbeiten bereits jetzt an ihrer Belastungsgrenze.

Lösung der Ungleichheit durch Legal Tech – read.your.rights

Um die Situation für die Betroffenen zu verbessern, arbeitet das read.your.rights.-Team an der Überwindung der Ungleichheiten mithilfe einer technischen Lösung. Das Team setzt sich aus Studierenden und Promovierenden verschiedener Fachrichtungen zusammen, die gemeinsam das Ziel verfolgen, allen Beschuldigten unabhängig von ihrem sprachlichen, finanziellen und kulturellen Hintergrund Zugang zum Strafverfahren und zu ihren Beschuldigtenrechten zu verschaffen. Hierfür wird eine (Web-)App entwickelt, mit deren Hilfe jeder Beschuldigte die polizeilichen, staatsanwaltlichen und gerichtlichen Schreiben scannen und verstehen kann.

Zudem bietet die (Web-)App schnelle Hilfe auch ohne ein konkretes Dokument durch eine umfassende Stichwortsuche. Es wird eine Aufklärung über die ergehende Maßnahme, eine Zusammenfassung der Rechte und ein Überblick über das weitere Verfahren bereitgestellt. Die Inhalte werden kostenlos und in einfacher Sprache sowie graphischer Aufarbeitung dargestellt. Für nicht deutschsprachige Beschuldigte können die Ergebnisse zudem in mehreren Sprachen angezeigt werden. Hierdurch wird es für jeden Beschuldigten gleichermaßen möglich, den Prozess nachzuvollziehen und die ihm zustehenden Rechte vollkommen auszuschöpfen. Die technische Lösung sorgt auf der einen Seite für schnelle und vor allem unkomplizierte Hilfe ohne Barrieren oder Hürden für die Betroffenen. Auf der anderen Seite werden durch eine technische Lösung die schon überlasteten Pflichtverteidiger und Behörden geschont.

Technische Umsetzung und Stand des Projekts

Der erste Schritt zur technischen Umsetzung dieses Ziels ist die Erstellung einer eigenen Datenbank im Rahmen eines eigenen Content-Management-Systems. Das juristische Team hat alle prozessrechtlich und materiell-rechtlich relevanten Tatbestände zusammengestellt. Anschließend wurden sämtliche Rechtsbegriffe und Normen geclustert und in einfache Sprache „übersetzt“. Während der Einpflegung dieser Vorlagen in das Content-Management-System werden die einzelnen Begriffe anschließend mit Keywords und Tags versehen, die es ermöglichen sollen, zwischen verschiedenen Begriffen einen engeren Zusammenhang herzustellen und eine Priorisierung der Begriffe bei der Ergebnisanzeige zu erreichen. Hierbei ist die Erstellung der Datenbank abgeschlossen, wobei die Verknüpfung und Priorisierung der Treffer durch immer feinere Filterung stetig weiterentwickelt und verbessert werden muss.

Wird nun ein Dokument gescannt, erkennt das entwickelte Programm mithilfe einer Texterkennungssoftware (OCR), um welche Ermittlungsmaßnahme (z.B. Vernehmung) oder welches Verfahrensstadium es sich handelt und liefert dem Nutzer eine auf seine Bedürfnisse angepasste Erklärung des Verfahrens und der ihm zustehenden Rechte in einfacher Sprache und graphischer Aufarbeitung. Diese Anzeige findet durch einen sekundenschnellen Abgleich der im Text erkannten Wörter mit dem Wortbestand in der Datenbank statt. Durch die Keywords und Tags werden die Treffer priorisiert und individualisiert, sodass nicht unendlich viele Treffer angezeigt werden, sondern lediglich diejenigen, die tatsächlich relevant sind.

Vorteile und Herausforderungen

Für Beschuldigte bietet eine technische Lösung gleich mehrere Vorteile. So ist eine App im Gegensatz zu einer Beratungsstelle nicht nur jederzeit und von überall aus erreichbar. Sie bietet darüber hinaus eine anonyme und detaillierte Aufklärung in jeder Sprache ohne Zugangsbarriere. Es sollte gerade im Strafprozess der rechtsstaatliche Anspruch sein, das Verfahren und die Verfahrensrechte verständlich zu gestalten. Hierfür fehlt jedoch die Zeit und das Personal. Eine technische Lösung überwindet diese Probleme. Trotz dieser Vorteile ist es wichtig zu erkennen, dass für eine wirkliche Lösung des Problems ein flächendeckender Einsatz der Technologie notwendig ist. Diese Flächendeckung kann im Strafrecht nur durch Einbettung des Tools in das öffentliche Verfahren abgedeckt werden, also durch Bereitstellung durch den Staat selbst. Eine rein private Lösung hat nicht ausreichend Durchschlagskraft, um alle Beschuldigten zu erreichen.

Ausblick

Es scheint untragbar, dass Beschuldigte, die sich einen Verteidiger leisten können, für eine gleichwertige Tat im Schnitt deutlich milder bestraft werden als diejenigen, die ohne Verteidigung bleiben. Insbesondere Beschuldigte, die nicht deutschstämmig sind, haben teilweise keine Chance auf die vollständige Wahrnehmung ihrer Rechte. Wir sind davon überzeugt, dass jeder einen vergleichbar guten Zugang zum Recht verdient hat. Deshalb werden wir weiter an der Realisierung einer technischen Lösung arbeiten, die allen Beschuldigten Zugang zu ihren Verfahrensrechten schafft.

Weitere Informationen unter https://www.readyourrights.de

Autorin: Isabel Ecker ist Promotionsstudentin an der Universität zu Köln im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts und Co-Head und Head of People des Legal Tech Lab Cologne. Sie ist zudem Co-Gründerin des Projekts read.your.rights im Bereich Tech und Legal. Dort kümmert sie sich insbesondere um die strafprozessualen Elemente der App sowie die technische Umsetzung und Weiterentwicklung der Keywords und Filter.

Autor: Sebastian Wolf ist nach dem Abschluss seines Schwerpunkts in Freiburg, nach einem Auslandssemester in Lausanne, an die Westfälische Wilhelms- Universität Münster gewechselt. Er ist Ideengeber und Co-Gründer des Projekts read.your.rights. Sebastian übernimmt die strategische Ausrichtung des Projekts, verwaltet die Kontakte zu Partnern und treibt die rechtliche Weiterentwicklung voran.

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