Fachartikel

Offener Brief an die JuMiKo zur Reform der juristischen Ausbildung

Über das Wie kann man streiten, über das Ob nicht

Am 05.06.2024 hat die Justizministerkonferenz (JuMiKo) beschlossen, dass kein grundlegender Bedarf für eine Reform der juristischen Ausbildung bestünde (hier der Beschluss zum Download). Grundlage hierfür war eine Beschlussvorlage des Koordinierungsausschusses der Juristenausbildung (KoA), dem vornehmlich Vertreter der Justizprüfungsämter angehören. Denn der KoA hatte im Frühjahr 2024 eine eigene Studie zur Reform der juristischen Ausbildung erarbeitet. Auslöser hierfür war wiederum eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) aus dem Jahr 2017. Diese zeigte, dass knapp ein Fünftel der Studierenden das Studium nicht abschließt, ein Großteil davon dieses aber erst im 7. Semester abbricht. Ziel des KoA war es, Wege zu finden, diese Zahl zu verringern oder eine frühere Beendigung des Studiums zu erreichen. Die nun veröffentlichte Studie des KoA basiert auf Interviews aus dem Jahr 2019 mit 91 Personen aus der juristischen Ausbildung (31 Lernende, 27 Lehrende, 32 Berufsträger) in 10 Bundesländern. Diese umfassten Studierende, Referendar:innen, Absolvent:innen des zweiten Examens, Rechtsanwält:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen, Verwaltungsangestellte, Hochschullehrer:innen und Ausbildende im Referendariat. Sie wurden überwiegend in Einzel- und Gruppengesprächen zu verschiedenen Themen befragt, um Rückschlüsse auf den Reformbedarf zu ziehen. Zu den Fragen zählte etwa „Warum haben Sie sich ursprünglich für die Ausbildung zur Volljuristin/zum Volljuristen entschieden?“, „Welche Fähigkeiten muss eine angehende Juristin/angehender Jurist haben?“, „Wenn Sie ‚drei Wünsche frei hätten: Was würden Sie an der klassischen Juristenausbildung ändern?“, „Wem würden Sie heute empfehlen Jura zu studieren“. Die Auswertung der Fragen verzögerte sich aufgrund der Coronapandemie und kam im Frühjahr 2024 zum Abschluss. Das Ergebnis aus Sicht des KoA: Kein grundlegender Reformbedarf.

Dies steht im Gegensatz zu Ergebnissen anderer empirischer Studien. Im Zuge der iur.reform-Studie von 2021 wurden etwa knapp 12.000 Jurist:innen u. a. zu 43 Reformoptionen befragt. Die Studie offenbarte eine Mehrheit, die sich für eine grundlegende Reform der juristischen Ausbildung aussprach. Konkret stimmten Praktiker:innen, Auszubildende und Lehrende für ein Sofortprogramm mit sechs schnell umzusetzenden Maßnahmen, wie der blinden Zweitkorrektur von Examensklausuren und der Aufnahme neuer Lerninhalte nur bei Streichung bestehender. Die weitere Ausgestaltung einer neuen juristischen Ausbildung über ein Sofortprogramm hinaus blieb jedoch unklar. Denn über die konkrete Ausgestaltung herrscht weiterhin Uneinigkeit. Die Initiative iur.reform fordert deshalb einen bundesweiten Stakeholderprozess, um auf der erarbeiteten Datengrundlage ergebnisoffen und unter Einbindung aller Akteur:innen eine Vision für eine neue juristische Ausbildung zu entwickeln. Vorbild ist die Academie Loccum der 1970er Jahre, die eine grundlegende Reform der juristischen Ausbildung einleitete. Ergebnis war die einstufige juristische Ausbildung, faktisch ein duales Jurastudium, das nach einem Jahrzehnt der Erprobung jedoch aus Kostengründen und politischen Uneinigkeiten zwischen SPD und CDU eingestellt wurde. Der Prozess der Academie Loccum, nämlich ein umfassender Stakeholderprozess unter Einbindung aller Akteur:innen, hat aber gezeigt, dass dies ein Weg sein kann, um die juristische Ausbildung ganz grundsätzlich zu verändern.

Für diesen Weg spricht nicht nur die iur.reform-Studie. Auch die regelmäßig stattfindende Absolventenbefragung des Bundesverbandes der rechtswissenschaftlichen Fachschaften zeigt, dass über zwei Drittel der ca. 1.000 befragten Studierenden das Studium nicht weiterempfehlen würden. Zudem ergab die JurStress-Studie der Universität Regensburg, dass 48 % der über 450 befragten Studierenden Anzeichen für eine Angststörung und knapp 19 % Symptome einer Depression aufwiesen, die jeweils im Kontext der juristischen Ausbildung standen.

Dass Reformbedarf besteht, wird neben den bestehenden und erheblich nach dem Erhebungszeitraum des KoA liegenden empirischen Studien auch durch meine persönliche Erfahrungen während der juristischen Ausbildung bestätigt. Mit Blick auf das Studium möchte ich zwei Aspekte hervorheben. Erstens die Prüfungsinhalte der Klausuren. Es wird oft behauptet, dass Kandidat:innen nichts auswendig lernen müssten, da sich alles aus dem Vierklang von Savigny (Wortlaut, Systematik, Telos und Historie) ergäbe. In der Praxis der Examensprüfungen müssen Kandidat:innen jedoch faktisch viele Inhalte auswendig wissen, um die Klausuren überhaupt in der gegebenen Zeit erfolgreich abschließen zu können. Ich weiß noch genau, wie ein Korrektor unter meine insgesamt gut bewertete Examensklausur im öffentlichen Recht schrieb, dass zwar alle Probleme angesprochen wurden, aber man durchaus mehr in die Tiefe hätte gehen können. Ich erinnere mich, dass ich in dieser Klausur sofort wusste, worauf die Klausur hinauswollte. Ich kannte nach 1,5 Stunden der Anfertigung der Lösungsskizze den Lösungsweg. Und dennoch bin ich nur gerade so mit der Klausur in der gegebenen Zeit fertig geworden. Die Anforderungen des Korrektors: Schlicht illusorisch. Zweitens die Stofffülle: In einem bald erscheinenden Aufsatz der iur.reform-Mitglieder Malte Krukenberg und Adrian Hemler wird empirisch belegt, dass die abgeprüft Stoffmenge in Examensklausuren in den letzten Jahrzehnten drastisch angestiegen ist. Sie ist kaum noch zu bewältigen. So wurde beispielsweise in einer meiner Examensklausuren erstmals seit 15 Jahren in Berlin neben Kommunalrecht auch die Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplans geprüft. Das dafür notwendige Prüfungsschema ergibt sich dabei ironischerweise gerade nicht einfach so aus dem Gesetz. Hätte ich mir dies vorher nicht angeschaut, hätte ich die Klausur nicht so gut bestanden, wie ich sie bestanden habe. Genauso gut hätte es in der Klausur aber auch um Wasserrecht gehen können. Die Themenweite ist uferlos.

Auch für das Referendariat möchte ich auf zwei Dinge hinweisen. Erstens, dass das zweite Examen in seiner jetzigen Form komplett überflüssig ist. Denn es stellt weiterhin das materielle Recht in den Mittelpunkt. Dieses wird aber bereits im ersten Examen abgeprüft. Inhalte wie die ZPO oder die StPO sind nicht neu. Bereits im Studium an der Freien Universität musste ich vertiefte Klausuren in diesen Fächern schreiben. Was bleibt da an Relevanz für das zweite Examen? Man lernt etwa den Aufbau von Urteilen oder Anklagen und die Revision. Doch steht das Ablegen eines zweiten Examens mit der Abprüfung dieser Fähigkeiten in einem angemessenen Verhältnis? Müssen die Kandidat:innen dafür über zwei weitere Jahre das erforderliche Detailwissen des materiellen Rechts aufrechterhalten? Ich denke die Antwort ist eindeutig nein. ZPO und StPO lassen sich dort, wo es noch nicht der Fall ist in das Studium integrieren. Dann muss man den Kandidat:innen nur noch die Formalia des Urteils- oder Anklageaufbaus beibringen. Das zweite Examen würde faktisch zum ersten. Im Gegenzug müsste natürlich anderer Stoff aus dem Stoffkatalog gestrichen werden. Das alles würde im Referendariat aber den so sehr ersehnten Raum schaffen sich tatsächlich mit der Praxis auseinanderzusetzen: Etwa Verfügungstechnik, Verhandlungsleitung, Dezernatsarbeit oder Plädoyer. 


Zweitens wird die Willkür der Klausurbewertung im zweiten Examen noch deutlicher. Die notwendigen Studien zu diesem Thema, wurden mit wenigen Ausnahmen noch nicht angefertigt. Es gibt aber hinreichende Verdachtsmomente. Ganz konkret haben mir dies in meiner eigenen Referendarsausbildung fast alle Ausbilder/-innen bestätigt. Man habe schließlich auch kaum Zeit für die Korrektur und werde auch noch schlecht bezahlt. Beides richtig. Beides muss dringend geändert werden. Es ist aber keine Entschuldigung die Korrektur nicht nach bestem Wissen und Gewissen vorzunehmen. Natürlich gibt es auch andere Korrektor:innen. Ich selbst kenne solche, die die Klausuren vorab selbst mit einem Kommentar in Form einer Lösungsskizze lösen bevor sie korrigieren. Doch genau diese Differenz im Korrekturverhalten führt zur Willkür in der Bewertung. Insofern braucht es mindestens eine bundesweite empirische Untersuchung zur Qualität der Benotung in beiden Examina. Im besten Fall werden jedoch konkrete Korrekturleitfäden (wie etwa auch im Abitur gängige Praxis) erstellt, die eine einheitliche Korrektur ermöglichen.

Der Bedarf für eine Reform der juristischen Ausbildung wird aber nicht nur durch empirische Studien und persönliche Erfahrungen deutlich, sondern auch von einer breiten Masse an Akteur:innen geteilt, darunter ehemalige Verfassungsrichter, Bundesminister und Professor:innen. Zuletzt haben sich im Rahmen der Hamburger Protokolle 16 Dekan:innen für eine Reform der juristischen Ausbildung ausgesprochen. Das Ob der Reform steht außer Frage, lediglich über das Wie kann im Rahmen eines umfassenden Stakeholderprozesses gestritten werden. Um der JuMiKo dies zu verdeutlichen, gibt es nun einen offenen Brief. Diesen habe ich neben hunderten anderen bereits unterschrieben. Sie auch?

Autor: Til Bußmann-Welsch ist Mitgründer der iur.reform-Initiative, Doktorand bei den Professoren Stephan Breidenbach und Dirk Heckmann, Gründer des Start-Ups iur.crowd und gegenwärtig Referendar am Kammergericht Berlin.

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