Fachartikel

Legal Tech Report aus China

Während sich die deutsche Rechtspraxis noch entscheiden muss, ob sie wirklich aus dem digitalen Dämmerschlaf aufwachen möchte, geht in China Legal Tech schnell voran. Wir werfen einen Blick darauf. Dieser legt Entwicklungen offen, die auch uns ein Vorbild sein können.

Mit dem Regierungsentwurf eines “Legal-Tech-Gesetzes” ist 2021 endlich eine ernsthafte Diskussion um die digitale Transformation der Rechtsdienstleistungsbranche im politischen Berlin angekommen. Hat lange genug gedauert, würde so mancher sagen. Dabei liegt das Problem – wie auch bei vielen anderen deutschen Digitalisierungsideen – gerade hier: beim Sagen und Diskutieren. Ideen und Initiativen werden häufig unter großem Energieeinsatz zerredet. Für eine beherzte Umsetzung reicht die Kraft dann nicht mehr.

Andernorts ticken die Uhren schneller und die Ärmel werden zackiger hochgekrempelt. Bekanntermaßen auch in China. Insoweit lohnt ein Blick darauf, was sich in Sachen Legal Tech digitalem Zugang zum Recht in Fernost in den letzten Jahren getan hat. Auf diesen Weg begibt sich dieser Beitrag. Dabei ist er auf keinen Fall als Gutheißung anderer Entwicklungen in der Volksrepublik oder gar als politische Positionierung misszuverstehen. Er liefert nur einen kleinen Einblick in einzelne Facetten der dortigen digitalen Entwicklungen; nicht mehr, nicht weniger.

Staatliches Justiz-Serviceportal und Klagen per App

www.12348.gov.cn – so heißt das Jusitz-Serviceportal des chinesischen Justizministeriums. Ein Bereich dieses Portals ist aus Legal Tech-Sicht besonders interessant: nämlich die “Intelligente Rechtsberatung”. Sie ist frei unter www.12348.gov.cn/pc zugänglich und enthält eine beeindruckende Fülle an digitalen Rechtsdienstleistungen. Insgesamt werden digitale Beratungsleistungen für 23 große Rechtsgebiete von Familiensachen bis zu Strafsachen angeboten. Über die Seite können sich BürgerInnen zu den wichtigsten Anliegen in einem Self-Service Prozess und über einen Fragebogen geführt Informationen einholen. Das Ganze funktioniert für die Rechtssuchenden ähnlich wie die in Deutschland bekannten Legal Tech-Angebote wie www.wenigermiete.de oder Flightright; nur mit dem Unterschied, dass der chinesische Staat diesen Service anbietet und er wesentlich umfangreicher ist.

Neben diesem Legal Tech-Onlineportal wird der Zugang zum Recht durch den chinesischen Staat auch mit einer Klagemöglichkeit per App verbessert. Dazu hat das Oberste Volksgericht – das chinesische Pendant zum BGH – gemeinsam mit dem chinesischen Legal Tech-Unternehmen Gridsum eine Erweiterung namens “Weisu” für die in China von quasi allen Menschen genutzte Multifunktions-App WeChat entwickelt. WeChat hat sich in den letzten Jahren von einer WhatsApp ähnlichen Messaging App zu einem digitalen Ökosystem mit Sozialem Netzwerk, digitalem Bezahlsystem und vielen anderen Funktionen entwickelt. Mit Weisu wird innerhalb von WeChat seit 2017 auch der Zugang zum Recht ermöglicht. Weisu kann sinngemäß als “Wir klagen” übersetzt werden und genau das wird ermöglicht: eine andere Person über WeChat zu verklagen. Und zwar von der Einreichung der Klageschrift und dem darauffolgenden Schriftwechsel bis zur Wahrnehmung von Gerichtsterminen über die Videochat-Funktion.

Virtuelle Gerichtsverfahren durch Internetgerichte

Im zeitlichen Zusammenhang mit “Weisu” hat China auch das Kapitel Virtuelle Gerichtsverfahren aufgeschlagen. Den Start machte 2017 das sog. Internetgericht in Hangzhou gefolgt von zwei weiteren Internetgerichten in 2018 in den Städten Peking und Guangzhou. Bei diesen Gerichten ist der Name in zweierlei Hinsicht Programm: Sachlich sind die Gerichte insbesondere zuständig für Streitigkeiten, die sich aus e-Commerce-Transaktionen ergeben, und das Gerichtsverfahren wird online über eine digitale Gerichtsplattform durchgeführt. Auf dieser laden die Parteien Schriftsätze und Beweismittel hoch, die mündliche Verhandlung findet via Videokonferenz statt und auch das Urteil wird digital zugestellt. Innerhalb etwa eines Jahres haben die drei Internetgerichte über 118.000 Verfahren aufgenommen und 88.000 erledigt. Statistische Erhebungen zeigen, dass durch die Internetgerichte im Durchschnitt die Arbeitszeit pro Verfahren um 60% und die Verfahrensdauer um 50% reduziert werden konnten.

Künstliche Intelligenz, Open Data und Big Data

China forciert auch den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in der chinesischen Justiz. Derzeit kommen einzelne Systeme zur intelligenten Entscheidungsunterstützung zum Einsatz. Beispielsweise nutzt das Internetgericht in Peking ein Dokumentenautomatisierungsprogramm, das nicht nur Schriftstücke automatisch erstellt, sondern in den Schriftsätzen auch die relevanten Informationen identifizieren kann, welche dann für das zu erstellende Dokument bereitgestellt werden. Alle Gerichte Chinas haben ferner Zugriff auf das “Similar-Case-Push-System”. Es ist eine große Falldatenbank, mit der man den eigenen Fall mit ähnlichen Fällen abgleichen kann. Dadurch soll nicht nur die Arbeitsgeschwindigkeit gesteigert, sondern auch die landesweite Konsistenz von Entscheidungen gewährleistet werden. KI-Anwendungen in der Justiz profitieren in China natürlich von dem Umstand, dass es der Regierung ein Anliegen ist, den Zugang zu rechtlichen Informationen zu erleichtern. So wurde gemäß des Leitbilds einer öffentlichen Jusitz die mit Juris vergleichbare Entscheidungsdatenbank “China Judgments Online” geschaffen, welche über 80 Millionen Entscheidungen enthält. Der entscheidende Unterschied zu Juris besteht aber darin, dass China Judgements Online kostenlos für alle zugänglich ist und die Daten für Legal Tech-Anwendungen zur Verfügung stehen.

Legal Tech für 22 Millionen Streitbeilegungsverfahren

Auch die chinesische Privatwirtschaft hat Legal Tech-Erfolgsgeschichten nachzuweisen. Eine davon erzählt das in Shanghai ansässige Legal Tech-Unternehmen Bestone. 2006 gegründet beschäftigt Bestone mittlerweile über 500 MitarbeiterInnen. Das Kernprodukt des Unternehmens ist eine Rechtsdienstleistungs-Plattform, über die streitige Verfahren beigelegt und erforderlichenfalls prozessiert werden können. Bis heute wurden über die Plattform über 22 Millionen Streitigkeiten beigelegt und über 100.000 Prozesse geführt. Kunden von Bestone sind überwiegend E-Commerce-Unternehmen, die über Bestone eine Streitbeilegungsmöglichkeit anbieten, mit der schneller und kostengünstiger Streitigkeiten abgewickelt werden können.

Von Anfang bis zu Ende gedacht

Das spannende am Praxisbeispiel Bestone ist, dass der Legal Tech-Anbieter es geschafft hat einen Service für streitige Verfahren anzubieten, welcher von Anfang bis zu Ende gedacht und auch implementiert ist. Das Unternehmen bezeichnet sie als “One-stop Dispute Resolution Service Solution”. Die Plattform vermittelt nicht nur MandantInnen an geeignete AnwältInnen, sondern der gesamte Prozess der Streitbeilegung und die damit einhergehende Kommunikation findet über die Plattform statt. Im Falle einer streitigen Fortführung des Prozesses existieren Schnittstellen zu Gerichten und anderen Behörden für den Datenaustausch. Über 3.000 Kanzleien mit über 40.000 AnwältInnen kollaborieren mit Bestone. Für sie liefert die Plattform auch ein Recherchetool für juristische Inhalte, das durch die abgewickelten Fälle ständig erweitert wird.

Was lernen wir daraus?

Legal Tech wird in China mit einer beachtlichen Dynamik vorangetrieben. Beeindruckend ist, dass gerade die Justiz dort eine Vorreiterrolle einnimmt, mit Elan und Experimentierfreudigkeit Digitalisierungsprojekte durchführt und einen besseren Zugang zum Recht gewährleistet. Gerade dieser Mut zum Experiment wird in Deutschland bisweilen vermisst. Schaut man sich die Intelligente Rechtsberatungsplattform des chinesischen Justizministeriums etwas näher an, wird deutlich, dass sich vieles noch im experimentellen Stadium befindet und unfertig ist. Trotzdem sind die Sachen schon online. Gerade für China ist dieser Umstand bemerkenswert, weil die öffentliche Gesichtswahrung einen hohen kulturellen Stellenwert hat. Von diesem Gründergeist, der in diesem Fall aus einer ganz unvermuteten Ecke kommt, darf man sich ruhig auch in der deutschen Rechtspraxis inspirieren lassen.

Autor: Michael Wang ist Co-Editor in Chief von falvkeji.com. Falvkeji.com (法律科技 [falvkeji] – chin. für “Legal Tech”) ist die weltweit erste Seite, welche sich systematisch mit Legal Tech in China befasst und einer internationalen Öffentlichkeit zugänglich macht.

Autor: Tianyu Yuan ist Rechtsanwalt, geschäftsführender Gesellschafter der Codefy GmbH und LEX superior GmbH und Co-Editor in Chief von falvkeji.com. Er berät Kanzleien und Rechtsabteilungen zu den Themen digitale Transformation (Design Thinking, Lean UX, Change Management), Prozessoptimierung, Wissensmanagement, Legal Operations und Legal Process Outsourcing.

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