ESGFachartikel

ESG in Kanzlei und Unternehmen — Mythos oder Realität?

Im Jahr 1999 besangen die Fantastischen Vier in ihrem Hit „MfG – mit freundlichen Grüßen“ die Welt der Akronyme. Die damals allgegenwärtige „VHS“ sorgt bei der jungen Generation heute für fragende Gesichter. Eine heute gängige Abkürzung war damals aber noch unbekannt. „ESG“ hat in jüngster Zeit an Bedeutung rasant zugelegt. Wie so häufig bei Akronymen: Es fehlen ein paar Buchstaben, um ein vollständiges Ganzes zu ergeben. Doch auch wenn wir uns an einzelnen Buchstaben festklammern, was bedeuten sie eigentlich? Was ist daran wirklich neu? Und was kommt da noch auf uns zu?

Ein Blick zurück – Nachhaltigkeit als Kür oder Pflicht?

Schon in den 1950er Jahren erkannten die Pensionskassen der Gewerkschaften die soziale Dimension von Investitionen (auf Wikipedia gelesen). Milton Friedmann warnte wenig später vor Renditeverlusten bei einer allzu moralisierenden Betrachtungsweise. James S. Coleman hielt mit dem Begriff des „sozialen Kapitals“ dagegen. Um 2002 herum entstand wohl in London der Begriff „ESG“. Anfänglich drehte sich die Diskussion darum, ob Unternehmen gesellschaftsrechtlich überhaupt Sozialverantwortung zeigen dürfen. Inzwischen ist es breiter Konsens, sie dies durchaus dürften – oder sogar müssen. Seitdem in den letzten Jahren die Sommer immer heißer und die Stürme immer stärker werden, schreiben sich sogar Manager großer Ölkonzerne den Klimaschutz auf ihre Fahnen – jedenfalls bis sie von ihren Aktionären zurückgepfiffen werden.

Ein Blick auf das Heute – Neue Qualität der ESG-Regulierung

In Europa haben wir das Glück mit politischen Instanzen gesegnet zu sein, für die Moral von großer Bedeutung ist. Aus diesem Grund existieren bereits eine Vielzahl neuer, ESG-relevanter Rechtsakte auf EU-Ebene. Dazu gehören beispielsweise die VO 2019/2089 zu ESG-Referenzwerten für Investoren (2019), die VO 2019/2088 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor (2019) oder die Taxonomie-VO 2020/852 zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen (2020). Bei allen dreien steht die Nachhaltigkeit bei und von Investitionen im Fokus. Man könnte sagen, es handelt sich um Maßnahmen, der verantwortungsbewussten Anleger. Dies gilt ebenso noch für die kommende VO über europäische grüne Anleihen.

Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) von 2022, die den Umfang der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen tiefgreifend durch neue Regeln zur nicht-finanziellen Berichterstattung erweitert, stellt jedoch einen bedeutsamen ersten Schritt in Richtung ESG-Compliance-Regulierung dar. Die noch im Entstehen befindliche Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD), die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit enthält, ist Regulierung pur. Damit wird eine neue Qualitätsstufe der ESG-Maßnahmen in der EU erreicht, was auch die heftigen Reaktionen aus der Wirtschaft erklären dürfte.

In der täglichen Beratungspraxis sehen wir, dass ESG nahezu alle Phasen und Dimensionen unternehmerischer Tätigkeit umfasst, angefangen beim Unternehmenswachstum (z.B. ESG-Strategie bei Unternehmenskäufen, Nachhaltigkeitskooperationen) über Reputationsschutz, Krisenmanagement, Board Training, operationelle Aspekte (Vertragsmanagement, Vorstandsvergütung, Diversität und Inklusion) bis zu ESG-relevanten Finanzprodukten.

Internationale Anwaltskanzleien verfolgen das Thema ESG aber nicht nur wegen ihrer Mandanten aus nächster Nähe. Sie unterliegen selbst den vielfältigen ESG-Regulierungen in Europa und anderen Regionen. Dies ermöglicht auch bei der Beratung aus eigener Erfahrung sprechen zu können. Ähnlich wie Unternehmen müssen auch wir uns anstrengen, unsere internen ESG-Ressourcen kontinuierlich auszubauen, um den immer größer werdenden Compliance-Aufwand bewältigen zu können.

Und was kommt morgen?

Die erste kritische Frage könnte lauten: Warum benötige ich eine ESG-Norm, wenn ich doch schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse abends das Licht ausschalte. Die zweite kritische Frage könnte lauten: Verkommt ESG-Compliance letztlich zur reinen Formalität? Indem ich von meinem Zulieferer aus einem Entwicklungsland eine Erklärung zur Vermeidung moderner Sklaverei anfordere und diese dann in meinen Unterlagen abhefte, habe ich meine Verantwortung erfüllt. Es besteht eine gewisse Gefahr, dass die bezweckte objektive Weltverbesserung ein bloßer Mythos bleibt. Die dritte kritische Frage ist: Wie soll ich das alles eigentlich schaffen. Und dies hängt unmittelbar zusammen mit der vierten kritischen Frage: Wird nicht einfach das Thema ESG in die große Compliance-Suppe eingerührt und damit konturlos? Diese Diskussion steht noch am Anfang.

Zwei wichtige Entwicklungen zeichnen sich jedoch bereits deutlich ab: Erstens ist ESG-Compliance zunächst einmal eine Frage der Gestaltung von Prozessabläufen. Die wachsende Regulatorik und eigene Maßnahmen müssen weltweit überwacht, gemessen und effizient gemanagt werden. Es braucht nicht nur ausgefeilter Reportingsysteme, sondern ESG muss zunehmend Teil der operativen Entscheidungsprozesse werden und auf allen Ebenen „mitgedacht“ werden. Dies gilt für Kanzleien genauso wie für Unternehmen. Legal Tech wird bei der Bewältigung der ESG- und Complianceanforderungen eine wichtige Bewährungsprobe haben. Je mehr die Automatisierung der Prozessabläufe gelingt, desto leichter haben es die Unternehmen. Auch Algorithmen können hier helfen. Zweitens: Bei Verstößen stellen sich komplexe juristische Fragen, etwa: was ist der Sorgfaltsmaßstab und wofür muss Schadensersatz geleistet werden. Heute ist Compliance in Unternehmen wie Kanzleien noch in den spezifischen Fachressorts bzw. Praxisgruppen verankert. In den nächsten Jahren, so die Pariser Compliance-Päpstin Marie-Anne Frison-Roche, wird sich jedoch ein einheitliches disziplinübergreifendes „Recht der Compliance“ herausbilden. Dies in den Griff zu bekommen, ist für Unternehmen wie Kanzleien eine sehr reale Herausforderung.

Über den Autor: Dr. Bertold Bär-Bouyssiere, LL.M., ist ein auf ESG fokussierter Kartellrechtsanwalt mit 30 Jahren Erfahrung auf dem Brüsseler Parkett.

Über die Autorin: Dr. Dominika Wojewska ist Anwältin im Berliner Büro von Dentons im Bereich Kartellrecht und berät u.a. im Zusammenhang mit Compliancesystemen und Nachhaltigkeitskooperationen zwischen Wettbewerbern.

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