Fachartikel

Interview mit ELTA Präsident Tobias Heining über die Zukunft von Legal Tech

Seit Anfang November 2018 ist Tobias Hei­ning neuer Prä­si­dent der European Legal Tech Association und folgte damit auf Hariolf Wenzler. Tobias Heining ist selber Gründungsmitglied und Mitglied im Vorstand des Branchenverbandes ELTA. Außerdem ist er Director of Business Development & Communications bei der Großkanzlei CMS. Das Legal Tech Verzeichnis sprach mit Tobias Hei­ning Ende letzten Jahres.

LTV: Vielleicht kennt noch nicht jeder Rechtsanwalt und Jurastudent die ELTA. Erklären Sie doch einmal in ein paar kurzen Sätzen was die European Legal Tech Association ist?

Tobias Hei­ning: Die ELTA ist ein Zusammenschluss von Kanzleien, Unternehmen, Legal Tech-Anbietern, Start-ups sowie Brancheninteressierten in ganz Europa. Ziel ist die Stärkung von Legal Tech auf europäischer Ebene. Konkrete Ziele der ELTA sind neben der allgemeinen Vertretung der gemeinsamen wirtschaftlichen, rechtlichen, gewerblichen, technischen und wissenschaftlichen Interessen der Mitglieder die Förderung der Bekanntheit von technologie- und softwaregestützten Lösungen und Prozessen im europäischen Rechtsmarkt, die Herstellung einer transparenten Plattform für die bessere Vernetzung der verschiedenen nationalen und europäischen Akteure und Bezugsgruppen im Bereich Legal Tech, die regelmäßige Information der Mitglieder über wichtige, aktuelle Themen und Entwicklungen sowie die Organisation von Veranstaltungen im Bereich Legal Tech, die Förderung der Wissenschaft und Forschung im Bereich Legal Tech und seiner Nachbardisziplinen sowie schlussendlich die Leistung eines Beitrags zu Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich Legal Tech.

LTV: Sie sind seit November 2018 Präsident der ELTA. Was genau ist Ihre Aufgabe dort?

Tobias Hei­ning: Rein technisch betrachtet entsprechen meine Aufgaben denen eines jeden Vereinsvorsitzenden, also die Übersicht über sämtliche Verbandsgeschäfte, im Wesentlichen die Vorbereitung und Leitung von Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlung, die Überwachung und Durchführung der Beschlüsse sowie natürlich die Vertretung der ELTA im Rahmen von Behördenkontakten und bei administrativen Aufgaben und ganz allgemein im Außenauftritt auf nationaler und internationaler Ebene. Weniger nüchtern geht es natürlich darum, gemeinsam mit meinen Vorstandskolleginnen und -kollegen die ELTA organisatorisch wie inhaltlich weiter nach vorne zu bringen und entsprechend unseres Mission Statement zu entwickeln. Im Speziellen kümmere ich mich dann noch um die Weiterentwicklung des von mir ins Leben gerufenen Kreises der ELTA Ambassadors, eines internationalen Zirkels handverlesener und gut vernetzter Legal Tech Expertinnen und Experten, die als Think Tank und Beratergremium des Vorstands agieren sollen.

LTV: Seit wann interessieren Sie sich persönlich für Technologie im Rechtsbereich?

Tobias Hei­ning: Ganz konkret seit 2007. Damals begann ich mich dafür zu interessieren, wie die Produktifizierung von Rechtsberatungsleistungen in Kanzleien grundsätzlich funktionieren könnte. Das ließ sich auch damals schon schwer ohne technologische Unterstützung denken. Es mussten dann allerdings noch einmal sechs weitere Jahre vergehen, bis ich mit CMS eine Kanzlei gefunden hatte, die mir die notwendigen Ressourcen für die Verwirklichung einer eigenen Einheit für die Entwicklung technologiebasierter Rechtsberatungslösungen bereitstellte.

LTV: Denken Sie, dass der Rechtsanwalt der Zukunft programmieren lernen sollte oder sogar können muss?

Tobias Hei­ning: Das glaube ich tatsächlich nicht. Die juristische Materie wird sicher mit fortschreitender Vernetzung und Globalisierung nicht weniger komplex. Man kann daher meiner Meinung nach nicht davon ausgehen, dass die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte der Zukunft angesichts dieser Entwicklung überhaupt die Kapazität dafür haben werden, on top auch noch Programmieren zu lernen. Ganz zu schweigen davon, dass es schlicht nicht jedermanns oder -fraus individuellem Skillset entspricht, so etwas zu können oder auch nur zu wollen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass auch in Zukunft noch viele hochqualifiziert Juristinnen und Juristen gebraucht werden, dann würde eine solche Voraussetzung den Pool möglicher menschlicher Ressourcen in diesem Bereich drastisch reduzieren. Das können wir uns wohl kaum leisten. Ein Grundverständnis für die Funktionsweise, den Aufbau und die Limitierungen von Softwarelösungen und von Codes wäre allerdings sicherlich hilfreich. Darüber hinaus würde ich erwarten, dass in absehbarer Zeit Lösungen entwickelt werden, die es den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten der Zukunft ermöglichen, ihrer Kernarbeit nachzugehen, während im Hintergrund des Arbeitsprozesses das Coding quasi mitläuft. Ein sinnhafter Ansatz wäre für mich grundsätzlich eher, auf Komplexitätsreduktion statt auf Komplexitätserhöhung zu setzen.

LTV: Wie sehen Sie die Zukunft der ELTA? Welche Aufgaben möchten Sie gerne in den nächsten Jahren umsetzen?

Tobias Hei­ning: Ziel ist es vor allem, den ELTA Mitgliedern einen echten Mehrwert bieten zu können. Zunächst gilt es daher einmal, sich Gedanken über die zukünftige organisatorische Ausrichtung der ELTA und deren Leistungen für die Mitglieder zu machen und die Internationalisierung sowie das Wachstum weiter voran zu treiben. Ferner soll die ELTA als eine Expertenorganisation positioniert werden, die die Diskussionsagenda rund um Legal Tech auf europäischer und nationaler Ebene wesentlich mitbestimmt. Dafür möchten wir uns auch auf Ebene strategischer Partnerschaften weiter entwickeln.

LTV: Wie sehen Sie die Diskussion um Legal Tech zur Zeit?

Tobias Hei­ning: Zum Teil noch sehr heterogen, aber trotz manch skeptischer Anmerkung und gelegentlicher Uninformiertheit grundsätzlich eher konstruktiv. Die Qualität und inhaltliche Tendenz der Diskussion hängt natürlich ganz stark davon ab, mit wem man sich dazu austauscht. Mancher möchte sich scheinbar lieber vornehmlich mit Begriffsklärung à la „Was ist eigentlich Legal Tech ganz genau?“ beschäftigen, anstatt sich über die eigenen Handlungsoptionen Gedanken zu machen. Das zeigt, dass wir uns hier immer noch relativ am Anfang der Meinungsbildung befinden. Das Lager der Befürworter ist aber mittlerweile in der Mehrheit. Die meisten haben wohl begriffen, dass sich die Uhr des Rechtsmarkts unabhängig von persönlichen Befindlichkeiten nicht mehr zurückdrehen wird und man irgendwie damit umgehen muss. Bei denen, die diese Veränderung ohnehin positiv sehen und in Chancen denken, erzeugt das eine Art Aufbruchstimmung, um die Möglichkeiten der intelligenten Kombination von Technologie und anwaltlicher Expertise weiter auszuloten.

LTV: Wie wird sich die tägliche Arbeit eines Anwalts Ihrer Meinung nach in 5 und in 20 Jahren verändert haben?

Tobias Hei­ning: In jedem Fall weitaus stärker unterstützt durch technologiebasierte Lösungen, als das heute der Fall ist. Die hoch anspruchsvolle juristische Beratungstätigkeit in sehr komplexen Projekten sowie in Krisen- und Sonder-Situationen mit hohem Risikopotenzial wird auch in 20 Jahren sehr wahrscheinlich nicht verschwunden sein und der anwaltliche Berater nicht durch künstliche Intelligenz oder „Robolawyer“ ersetzt werden. Aber selbst hier wird sich der Anwalt der Zukunft wohl nicht mehr allein auf seine intellektuellen Fähigkeiten verlassen können. Auch wenn ich davon ausgehe, dass der Anteil anwaltlicher Spezialisten an der Leistungserbringung im Vergleich zum Einsatz und Einfluss anderer Spezialisten und Technologien in diesem Segment noch vergleichsweise hoch bleiben wird. Technologie wird hier in den allermeisten Fällen wahrscheinlich genutzt werden, um die von Anwälten zu erbringende Leistung zu „boosten“. Im Bereich des komplexeren Tages- und Projektgeschäfts werden neben den Anwälten in größerem Umfang zukünftig sicherlich vermehrt auch andere Experten zusätzlich zur Technologie eingesetzt werden, um zur Effizienzsteigerung beizutragen.

Im Bereich der „Commodity“ schließlich wird ein Großteil der Leistung dann vermutlich durch „produktifizierte“ Beratungslösungen abgedeckt werden können. Eine derartige Veränderung der Strukturen und Leistungserbringung hat dann selbstverständlich weit gefächerte Auswirkungen auf Recruiting-, Onboarding- und interne Aus- und Fortbildungs-Prozesse sowie auf die Einsatzszenarien der unterschiedlichen Ressourcen. Das umfasst sehr wahrscheinlich auch die (Neu-)Definition von Arbeitsabläufen und Maßnahmen der Qualitätssicherung, beeinflusst die Teamzusammensetzung, die Projekt- und Ressourcen-Koordination inklusive disziplinarischer Zuordnung, Zugriff auf und Verteilung von Ressourcen, das benötigte Skillset auf allen Seiten und die Bewertung von Leistungsbeiträgen und Erfolgskriterien. All das wird sich massiv in der täglichen Arbeit der Anwältinnen und Anwälte niederschlagen. Nur passiert es selbstverständlich nicht an einem fiktiven Stichtag in 5 oder 20 Jahren. Die Veränderung hat ja bereits begonnen und wie die anwaltliche Arbeit in 5 oder 20 Jahren aussehen wird, können und sollten wir heute aktiv mitbestimmen.

LTV: Vielen herzlichen Dank für das interessante Interview!

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