Gründung der Digitalen Richterschaft
Digitalisierung und „Legal Tech“ sind die Themen dieses richterlich geprägten Thinktanks, der als Graswurzelbewegung in der Justiz und als Schnittstelle zu anderen Stakeholdern wirken will.
Im Bereich „Legal Tech“ und Digitalisierung des Rechtswesens gibt es viele Veranstaltungen und Vereinigungen unter Federführung der Anwaltschaft und freien Wirtschaft. Bisher fehlte ein Forum für Richter:innen zum Austausch über Digitalthemen und Innovationsprozesse in der Justiz. Die „digitale richterschaft“ möchte genau diese Plattform bieten, um einen (maßgeblich justizinternen) Austausch innerhalb des digitalaffinen Kollegenkreises über die neuesten Technologieentwicklungen in der Justiz zu ermöglichen. Unser Forum strebt eine bundesweite Vernetzung technikaffiner Richter:innen aller Gerichtsbarkeiten an. Ergänzend zum kollegialen Austausch erfolgt ein reger Austausch mit Staatsanwält:innen, dem Notariat, der Anwaltschaft, der freien Wirtschaft sowie Wissenschaft und Forschung.
Die Verfasser leiten die Geschicke der „digitalen richterschaft“, deren Aktivitäten sich auf mehrere Bereiche verteilen:
Mailingliste – Kontakte zum digitalen Kollegenkreis
Die „digitale richterschaft“ bietet eine moderierte Mailingliste an. Sie gibt allen Beteiligten die Möglichkeit, auf (eigene) Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Vorträge hinzuweisen, Fragen zu stellen, Themen für den künftigen Austausch vorzuschlagen und vieles mehr. Derzeit befinden sich schon knapp 300 Personen auf der Mailingliste.
Vorträge – Wissensvermittlung und Austauschmöglichkeit
Regelmäßig organisiert die „digitale richterschaft“ Online-Vortragsveranstaltungen. Dabei kommt es uns insbesondere darauf an, dass im Anschluss an die Impulsvorträge viel Zeit für einen regen Austausch und Diskussion zur Verfügung steht.
Die bisherigen Vorträge befassten sich mit den folgenden Themen:
- RinAG Janine Krzizok: „Herausforderungen von Masseverfahren in der gerichtlichen Praxis“.
- RiLG Dr. Simon J. Heetkamp: „Einsatz von Virtual Reality-Technologie im Zivilverfahren“
- Akademische Rätin Dr. Anna K. Bernzen: „Digitalisierung der Gerichtsöffentlichkeit“
- RiLG Dominik Thalmann: „Videoverhandlungen vor Gericht – wo stehen wir und wo möchten wir hin?“
- VPräsOLG Peter Lichtenberg: „Digitale Justiz – Wo wollen wir hin?“
- Falk Neumann / Zoljargal Neumann: „Digitale Direktbeauftragung von Dolmetschern und Übersetzern für Gerichte und Behörden“
- VRinOLG Bettina Mielke: „Strukturierung des Parteivortrags im Zivilprozess – die Entwicklung eines elektronischen Basisdokuments“
- RA Dr. Kuuya J. Chibanguza: „Einfluss der neuen KI-Verordnung auf die Justiz“
- Dr. Jakob Horn „Automatische Entscheidungsfindung durch Zivilgerichte“
- Rin Dr. Tamara Rapo – Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung – Chancen & Risiken
Digitalpatenschaften – Richterliche Expert:innen für Digitalthemen
Die „digitale richterschaft“ wird alsbald auf ihrer Homepage (www.digitale-richterschaft.de) richterliche Expert:innen für verschiedene Digitalthemen benennen. Diese Digitalpat:innen sind mit den Rechtsfragen des jeweiligen Digitalthemas in besonderer Weise vertraut und stehen so einerseits innerhalb der Justiz zum kollegialen Austausch zur Verfügung, können andererseits aber auch von Dritten – etwa Vertreter:innen von Wissenschaft und Forschung – unmittelbar kontaktiert werden.
Digitalthemen in der Justiz – KI & Co.
Schaut man in das Grundlagenpapier zur 74. Jahrestagung der Präsident:innen der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofs vom 23.-25. Mai 2022 mit dem Titel „Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz“ (zu finden auf: https://www.justiz.bayern.de) findet man nicht nur die dominierenden Digitalthemen der vergangenen Jahre: die Einführung der eAkte und des elektronischen Rechtsverkehrs einerseits und die mündliche Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung gemäß § 128a ZPO andererseits. Vielmehr werden bereits viele weitere Digitalisierungs- und Modernisierungsvorschläge intensiv (und teils sehr kontrovers) diskutiert. So listet das Grundlagenpapier u.a. auch die laufenden und geplanten Projekte in der deutschen Justiz zu KI und Algorithmen auf. Zu diesen gehören:
- Automatisierte Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen
- Semantische Metadatengewinnung und Textanalyse
- Tools zur verbesserten Aktendurchdringung (etwa automatische Erstellung eines Zeitstrahls; Textvergleich; Normverweisanalyse)
- Spracherkennung für Protokollierungen
- Chatbots für Rechtsantragsstellen
- KI-Unterstützung für die Bearbeitung von Massenverfahren
Neben diesen auf KI und Algorithmen fokussierten Neuerungen gibt es weitere, drängende Digitalisierungsthemen:
- Digitalisierung der Gerichtsöffentlichkeit
- Strukturierung des Parteivortrags im Basisdokument
- Digitale Klagewege
- Open Legal Data / Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen
Ausblick – Die Justiz 2030
Es kann angesichts der Vielzahl der gegenwärtig diskutierten und pilotierten Digitalisierungsansätze mit einiger Sicherheit angenommen werden, dass die deutsche Justiz in zehn Jahren nicht mehr wiederzuerkennen sein wird. Für die Digitalisierung der Justiz wird dabei auch entscheidend sein, dass sie von allen Justizbediensteten mitgetragen statt nur „ertragen“ wird. Das setzt in allen Bereich voraus, dass die Arbeit der Bediensteten durch die digitalen Tools objektiv und subjektiv besser wird.
Unsere Vision ist, dass sich die Justiz an die Spitze der Digitalisierung stellt. Dazu gehört neben einer entsprechenden Haltung auch, dass Digitalthemen (wie etwa der Einsatz von KI, Virtual Reality-Technologie, Augmented Reality-Technologie) proaktiv vorangetrieben werden. Eines ist sicher: Die „digitale richterschaft“ hat Lust, den Digitalisierungsprozess der Justiz mitzugestalten.
Machen Sie mit!
Jede:r, der/die sich für Digitalisierung und Innovationen in der Justiz interessiert, darf sich gerne in der „digitalen richterschaft“ einbringen – es ist nicht notwendig, dass Sie Richter:in sind. Die „digitale richterschaft“ freut sich über Ihr Interesse (etwa Teilnahme an Vorträgen, Aufnahme in die Mailingliste) und Kontaktaufnahme unter kontakt@digitale-richterschaft.de. Mehr Informationen erhalten Sie unter www.digitale-richterschaft.de.
Autorin: Dr. Christina-Maria Leeb ist Richterin in Passau. Zuvor war sie einige Jahre als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer großen mittelständischen Wirtschaftskanzlei tätig. Sie promovierte 2019 zum Thema „Digitalisierung, Legal Technology und Innovation“. Seit Juli 2022 ist sie Teil des Organisationsteam der digitalen richterschaft.
Autor: Prof. Dr. Simon Heetkamp hat an der TH Köln eine Professur für Wirtschafts-, Mobilitäts- und Versicherungsrecht inne und ist Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück im Schwerpunktbereich Digital Law. Im März 2022 gründete er die digitale richterschaft; derzeit ist er vom Richteramt beurlaubt.
Autor: Dr. Christian Schlicht ist Richter am Landgericht in Köln und dort als IT-Dezernent u.a. für die Einführung der elektronischen Akte, auch an den acht Amtsgerichten des Bezirks, verantwortlich. Im März 2022 gründete er die digitale richterschaft.