Kommentar ohne Autor: Der erste LLM-generierte juristische Kommentar
Die Erstellung von Rechtskommentaren zählt seit jeher zu den Kernaufgaben von Juristen und Rechtswissenschaftlern. Diese Kommentare bieten eine systematische Aufbereitung und Analyse von Gesetzesvorschriften und deren Auslegung in der Rechtsprechung. Doch ein neues Projekt könnte diese traditionelle Form der Kommentierung auf den Kopf stellen – und dabei nicht nur effizienter, sondern auch kostengünstiger und präziser sein.
Maschinelle Analyse der Versammlungsfreiheit
Die Rechtswissenschaftler Dr. Christoph Engel und Dr. Johannes Kruse haben einen Prototypen entwickelt, der es ermöglicht, die Kommentierung einer Grundgesetzvorschrift mit Hilfe künstlicher Intelligenz zu automatisieren. Konkret geht es um die Versammlungsfreiheit, verankert in Artikel 8 des Grundgesetzes. Engel und Kruse haben ein Verfahren entwickelt, bei dem die Sammlung und Aufbereitung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Thema nicht mehr von Hand erfolgt, sondern von einer KI.
„Unsere Vision war es, einen Kommentar zu erstellen, der das gesamte verfügbare Material zum Thema Versammlungsfreiheit schnell, präzise und vollständig auswertet – und das zu minimalen Kosten,“ so beschreibt Engel die Grundidee des Projekts. Tatsächlich kostete der Einsatz der Künstlichen Intelligenz weniger als 30 Euro, was durch die Nutzung der KI-Plattform GPT-4 von OpenAI ermöglicht wurde.
Struktur und Funktionsweise: Der „lebende“ Kommentar
Im Kern setzt sich das System aus zwei Komponenten zusammen: einem Python-Skript, das für deterministische Aufgaben zuständig ist, und GPT-4 turbo, einem KI-gestützten Sprachmodell, das in der Lage ist, komplexe Rechtsfragen zu analysieren. Die KI übernimmt dabei zwei wesentliche Aufgaben: Zum einen identifiziert sie relevante Aussagen der Rechtsprechung zu spezifischen Elementen der Dogmatik des Art. 8 GG. Zum anderen fasst sie diese Passagen zusammen und erstellt daraus einen strukturierten, lesbaren Kommentartext.
Ein entscheidender Vorteil dieses Verfahrens: Der Kommentar kann fortlaufend und automatisch aktualisiert werden. Der Code durchsucht alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die seit einem festgelegten Stichtag ergangen sind. Wenn eine neue Entscheidung die Dogmatik des Art. 8 GG betrifft, generiert der Code innerhalb weniger Minuten eine aktualisierte Version des Kommentars. Diese „lebende“ Natur des Kommentars ist besonders in einem dynamischen Rechtsbereich wie dem Verfassungsrecht von unschätzbarem Wert.
Vorteile gegenüber traditionellen Kommentaren
Der Prototyp zeigt bereits heute eine Reihe von Vorteilen, die den maschinellen Kommentar für Praktiker attraktiv machen könnten:
Präzision: Der Kommentar verweist auf jede relevante Passage innerhalb einer Gerichtsentscheidung, einschließlich der spezifischen Randnummern, was eine punktgenaue Verortung und Zitierfähigkeit ermöglicht.
Umfang und Vollständigkeit: Anders als viele manuell erstellte Kommentare erfasst der maschinelle Kommentar sämtliche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die öffentlich zugänglich sind. Dies ist besonders bemerkenswert, da das Gericht nur einen Teil seiner Kammerentscheidungen veröffentlicht, was den Zugang zur vollständigen Rechtsprechung erschwert.
Benutzerfreundlichkeit: Durch Hyperlinks kann jede zitierte Passage in der Originalentscheidung des Gerichts direkt angesteuert werden.
Die Autoren dokumentieren die technische Umsetzung sowie konzeptionelle Herausforderungen des Projekts in einem begleitenden Aufsatz. Dabei erläutern sie sowohl die algorithmische Logik hinter der Python-Programmierung als auch die spezifische Rolle, die GPT-4 turbo bei der sprachlichen Analyse der Gerichtsentscheidungen übernimmt. Diese technische Aufschlüsselung zeigt auch, dass eine solche Kommentierung keineswegs trivial ist: Nicht nur muss die KI relevante Aussagen erkennen, sondern sie muss diese auch in den korrekten dogmatischen Kontext einordnen.
Eine Zukunft für maschinell erstellte Rechtskommentare?
Das Projekt von Engel und Kruse könnte einen wichtigen Meilenstein für die Zukunft juristischer Informationssysteme markieren. Zwar ist es noch als Prototyp konzipiert, doch zeigt es bereits, welches Potenzial automatisierte Verfahren zur Analyse und Zusammenfassung von Rechtsprechung besitzen. Angesichts der immer größeren Menge an juristischen Texten, mit denen Anwender heute konfrontiert sind, könnte dies der Beginn einer neuen Ära der Rechtskommentierung sein.