Was bedeutet es ganz praktisch, wenn KI in die Kanzlei oder die Rechtsabteilung einzieht?
Interview mit Björn Frommer, CEO beim Legal AI Experten JUNE, und Christian Häp, CTO bei JUNE, über die Praxis der KI-Revolution.
LTV: Für welche aktuellen Herausforderungen ist KI die Antwort?
Björn Frommer: Im Moment geht es vor allem darum, wie wir menschliche Arbeit in technologische Lösungen überführen können. Wir alle kennen die aktuellen Probleme: Fachkräfte sind Mangelware, in Großstädten sind die Gehaltsforderungen teilweise unerfüllbar, und hinzu kommt ein demografisches Problem. Die Nachwuchskräfte haben im Studium gelernt, dass viele der manuellen Aufgaben mit den richtigen Tools gar nicht mehr nötig sind. In der juristischen Arbeitsrealität werden aber noch immer rund 90 Prozent der Arbeit mit repetitiven Tätigkeiten verrichtet. Es wird zunehmend schwieriger, Menschen zu finden, die noch so arbeiten möchten. Hinzu kommt, dass der Workload durch die Komplexität der Verfahren beziehungsweise deren schiere Masse immer stärker ansteigt. Und: Auch Mandanten sind immer weniger bereit, für sinnlose händische Arbeit zu bezahlen.
Man darf die Digitalisierung nicht zu lange hinauszögern, sonst wird der Abstand zu den Vorreitern zu groß. Wie bei der Tour de France: Sind Sie erstmal aus dem Hauptfeld zurückgefallen, fahren Ihnen die Konkurrenten uneinholbar davon.
LTV: Muss ich meine bisherigen Software-Lösungen einmotten, wenn die KI kommt?
Björn Frommer: Die Welt der KI entwickelt sich rasant, wobei völlig neue Produkttypen entstehen. Diese ergänzen die bewährten Programme, ersetzen sie aber nicht zwangsläufig. Wenn ich ein KI-gestütztes Tool wie JUNE nutze, bedeutet das nicht, dass ich die bislang eingesetzten Lösungen abschalten muss. Kanzleimanagement- oder Dokumentenmanagement-Systeme unterliegen ohnehin weniger aktuellen Trends, und sie auszutauschen ist zumeist ein großes Unterfangen. Ein gutes KI-Tool ist so konzipiert, dass es nahtlos an Vorhandenes anknüpft, um es optimal zu komplettieren.
LTV: Kann ich durch KI-Tools komplette Anwendungen einsparen?
Björn Frommer: Ich würde das eigentlich gerne mit „ja“ beantworten, aber das Problem liegt nicht darin, dass wir zu viele Tools haben. Im Gegenteil: Wir sind längst nicht digital genug unterwegs. Sicherlich gibt es Programme, die durch KI-Anwendungen wie JUNE obsolet werden. Ermöglicht die KI-Plattform beispielsweise ein automatisiertes Reporting, kann man sich von einem separaten Reporting-Tool verabschieden. Auch zusätzliche Kollaborationslösungen können überflüssig werden. Aber so richtig spannend wird diese Frage erst in vielleicht einigen Jahren, wenn bestimmte Produktkategorien möglicherweise gar nicht mehr auf dem Markt existieren.
LTV: Macht mich die Verwendung von Legal AI auch als Arbeitgeber attraktiver?
Björn Frommer: Unbedingt! Die heutigen Traumjobs im Rechtswesen beinhalten den Bereich Tech. Die Jobtitel lauten nicht mehr einfach Refa oder Rechtsanwalt, sondern sind ausdifferenzierter. Aber ein klangvoller Titel reicht natürlich nicht aus, wenn sich dahinter die althergebrachte Rolle verbirgt. Die hochattraktiven Arbeitgeber findet man dort, wo kollaboratives Arbeiten gefragt ist, wo modernste Technologien im Einsatz und Technologen auf Augenhöhe angestellt sind. Und damit entscheiden sich Berufseinsteiger vielfach auch für eine inhaltliche Perspektive, ein soziales Umfeld und Lebensqualität statt für das höchstmögliche Einstiegsgehalt.
LTV: Wie schaffe ich den Weg vom analog verzeichneten Wissen auf Papier zur digitalen Plattform?
Björn Frommer: Bei der Digitalisierung geht es um mehr als nur den Kauf einer neuen Software, sie beinhaltet viele Evolutionsstufen – von der Firmenkultur über die Prozesse bis hin zur Cloud-Lösung. Der Knackpunkt liegt darin, Altlasten zu überwinden. Wir alle kennen das: Die Vergangenheit versperrt uns den Blick auf die Zukunft. Das müssen wir ändern. Ein Digitalisierungsprojekt dauert, ist aber machbar, vor allem mit professioneller Unterstützung. Dann werden die Papierdokumente zu digitalen Schätzen.
LTV: Herr Häp, wobei kann mich KI im Arbeitsalltag konkret unterstützen?
Christian Häp: Generell glänzt KI dort, wo mit vielen Daten und Informationen umgegangen wird. In JUNE beispielsweise unterstützt KI unter anderem dabei, Daten automatisiert aus Dokumenten zu extrahieren. Sie ermöglicht sowohl einen schnellen Überblick über die Akte als auch ein detailliertes Eintauchen. Auch aktenübergreifend arbeitet die KI: Sie erkennt mit Large Language Models sachliche Inhalte und spürt so alle Dokumente im Wissensschatz des Anwenders auf, die relevante Informationen zu einem Thema enthalten – und zwar kontextbezogen. Dadurch findet die KI auch Wissen, von dem der Nutzer gar nicht geahnt hat, dass es vorhanden ist. Übrigens funktioniert das sprachübergreifend: Egal in welcher Sprache die Informationen vorliegen, die KI ordnet sie korrekt zu.
Wir bei JUNE wollen, dass die KI auch ganz konkret bei der anwaltlichen Wertschöpfung unterstützt. Deshalb arbeitet unsere KI beispielsweise mit automatisierten Workflows und sorgt so für effiziente Prozesse und erleichtert die Zusammenarbeit. Auch beim Erstellen von Argumentationen unterstützt die KI: Zum Beispiel entwirft sie auf Wunsch eine Gegenargumentation zu einem Absatz, wobei sie sich auf Erkenntnisse aus der Akte bezieht. Und ausgehende Schreiben formuliert sie völlig automatisiert, gemäß einmal angelegter Vorlagen und mit Hilfe der extrahierten Daten aus den Eingangsschreiben.
Der Datenschutz ist bei all dem selbstverständlich gewährleistet: JUNE ist ISO 27001 zertifiziert und läuft sicher und souverän in einem speziell für uns eingerichteten Bereich von Azure innerhalb der EU, inklusive sämtlicher Machine-Learning- und GPT-Implementierungen.
LTV: Wohin geht in Sachen KI im Rechtswesen die Reise in der näheren Zukunft?
Christian Häp: KI macht Software vom einfachen Werkzeug zum aktiven Unterstützer. Die Integration von Large Language Models ist dabei entscheidend. JUNE hat hier eine Vorreiterrolle inne, weil wir von Anfang auf KI gesetzt haben. Und mit den neuen GPT Turbo Modellen bauen wir die Leistungsfähigkeit unserer Plattform weiter deutlich aus.
Darüber hinaus haben wir jüngst DeepL integriert und ermöglichen dadurch eine vollautomatische Übersetzung sämtlicher eingehenden sowie ausgehenden Dokumente aus allen beziehungsweise in alle Sprachen. Das vereinfacht die Arbeit mit fremdsprachigen Inhalten sowie mit internationalen Kollegen und Mandanten enorm. JUNE ist auch hier Pionier.
Zudem arbeiten wir an der Self Service Data Extraction, die es Nutzern ermöglichen wird, Daten selbstständig extrahieren zu lassen, ohne dass die KI dafür vorab von uns trainiert werden muss. Das ist Datenextraktion der neuen Generation und hebt den Umgang mit der Akte auf ein völlig neues Level.
Kurz gesagt: Unsere Vision ist es, KI in alle Aspekte der juristischen Wertschöpfung zu integrieren. Dabei setzen wir neben Azure OpenAI auch auf andere innovative Technologien wie beispielsweise Vision AI. Durch die Kombination verschiedener KI-Methoden revolutionieren wir die Datenanalyse und schaffen einzigartige Nutzererfahrungen.
LTV: Vielen Dank für das Interview!
Über den Interviewten: Björn Frommer ist Rechtsanwalt und Managing Partner der Kanzlei FROMMER LEGAL, Co-Founder und CEO von JUNE sowie Gründungsmitglied und Beirat des Legal Tech Verbands Deutschland. Seit Jahren engagiert er sich für technologiegestützte Lösungen im juristischen Bereich – zunächst mit eigener Abteilung innerhalb der eigenen Kanzlei. Heute wird diese Entwicklung mit JUNE konsequent fortgesetzt.
Über den Interviewten: Als CTO bei JUNE leitet Christian Häp die Weiterentwicklung sowie den Betrieb der JUNE Legal AI & Automation Plattform und forscht an Zukunftstechnologien wie generativer KI und Machine Learning. Ursprünglich aus der Softwareentwicklung kommend, begleitete er zuvor die Rechtsanwaltskanzlei FROMMER LEGAL bei der Entwicklung und Implementierung von modernen Cloud-Technologien zur effizienten juristischen Fallbearbeitung.