Die Evolution des datengetriebenen Arbeitens
Seit Anbeginn der Zivilisation arbeiten wir Menschen mit Daten – um den Überblick zu behalten und Erkenntnisse abzuleiten. Bereits 3.500 v. Chr. nahmen die Sumerer in Keilschrift erste Abrechnungen auf Tontafeln vor, etwa für Brot und Bier. Das ist – im Kern – ein Arbeiten mit Daten. Heute, wo Verbraucherklagen oft nur einen Klick verlangen, Unternehmen in anspruchsvollen regulatorischen Umfeldern agieren und Jura insgesamt deutlich komplexer geworden ist, würden wir der Datenmengen weder mit Tontafeln noch Exceltabellen Herr werden. Wie also dann?
Heute extrahieren, sortieren, bearbeiten wir Daten mit Hilfe von KI. Und dabei unterscheidet sich der Mensch gar nicht so sehr von dem vor 5.500 Jahren. Er will nachvollziehen können, woher welche Information stammt. Seitdem die KI mitmischt, erst recht. Denn seinen eigenen Augen traut er weiterhin am meisten. Deshalb muss Datenarbeit den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Genau so, wie es sich durch die Evolution des datengetriebenen Arbeitens gezogen hat.
Die Anfänge: Knicktechniken, Textmarker und Post-its
Beginnen wir diese Evolutionsgeschichte bei der klassischen Herausforderung juristischer Textarbeit: Große Informationsmengen über zahlreiche Dokumente verteilt. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren Textmarker und Post-its die wohl gebräuchlichsten Hilfsmittel des datengetriebenen Arbeitens. Unterstreichungen, Randnotizen, Exzerpte und Papier-Knicktechniken seien hier ebenso erwähnt. Kategorie Einzeller, unterste Evolutionsstufe.
Die visuellen Werkzeuge halfen uns, wichtige Informationen hervorzuheben und wiederzufinden. Ich erinnere mich an Rollkoffer voller Aktenordner, die vor Gericht zügig an der richtigen Stelle geöffnet werden mussten. Aufwendig, stressig, materialintensiv. Und: Man musste die Akte selbst gelesen haben. Komplett. Wie old school.
Der nächste Schritt – Datenbearbeitung in Excel
Mit Microsoft Excel konnten wir Daten endlich systematisch organisieren und analysieren. Nach den Einzellern also nun komplexe Lebewesen mit zentralen Nervensystemen, wenn man so will.
Excel blieb jedoch fehleranfällig. Oder eigentlich der Mensch. Er musste die Informationen erst übertragen und schon dabei konnte vieles schiefgehen, vor allem beim Medienbruch zwischen Papier und PC. Und die Anwendung selbst verlangte dem Nutzer einiges Geschick ab. Nicht zu vergessen: Wir Juristen haben Excel nicht so eingesetzt, wie es ein Accountant tun würde. Wir haben versucht, unser Wissen in Reih und Glied zu bringen. Dafür ist Excel nun mal nicht entwickelt worden.
Ein weiteres Manko: die fehlende Rückverfolgbarkeit. Zelle um Zelle wurde händisch oder via Makro befüllt, doch wie finde ich all diese Informationen in den Originaldokumenten wieder? Diese Unsicherheit gefällt dem gemeinen Juristen nicht. Zu Recht. Und überhaupt: Erst komplizierte Formeln anlegen müssen, um an Wissen zu gelangen?
Der Durchbruch: OCR und maschinelles Lernen
Zumindest ein Teil dieser Fehlerquellen ließ sich auf der dritten Evolutionsstufe beseitigen: OCR (optische Zeichenerkennung) und einfache maschinelle Lerntechniken. Wir sind nun bei den Amphibien angelangt – es geht vom Wasser ans Land.
OCR eröffnete die Möglichkeit, Texte und Informationen automatisch auszulesen und sorgte damit für mehr Effizienz und Genauigkeit. Ein bedeutender Durchbruch.
Einfaches OCR las nur die Kopfdaten aus Akten aus. Einen Boost gab das maschinelle Lernen, mittels dessen moderne OCR-Systeme ganze Texte korrekt erfassen. Aber: Es gab für Juristen wenig Software mit Fokus auf diese Art der Wissensbeschaffung. Obwohl das Verfahren spätestens ab Dieselgate – als die Fälle massenhaft einströmten – in der Juristerei bekannt war, gelangten die wenigsten Kanzleien via Datenextraktion an die in den Dokumenten schlummernden Informationen, sondern oft genug über ihr Humanpotential. Und organisieren und auswerten musste man das Ganze dann doch wieder in Excel. Anders gesagt: Wir Juristen haben OCR oft nur mit einem PDF gleichgesetzt, also einem digitalen Stück Papier. Die dahinter liegenden Daten haben die wenigsten aktiv für sich genutzt.
Die Spitze der Evolution: Datenextraktion mittels KI
Heute stehen wir an der Spitze der Evolution des datengetriebenen Arbeitens: der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Datenextraktion. Vorläufig, da wir nicht im Status quo verharren werden.
Diese Stufe kann in der Evolution mit der Entwicklung des menschlichen Gehirns verglichen werden, das komplexe Probleme löst und aus Erfahrungen lernt. Wir haben also seit den OCR-Amphibien einen Riesensprung gemacht, dank des unglaublichen Fortschritts durch KI.
Was macht eine exakte und ausführliche Datenextraktion so unverzichtbar?
KI-gestützte Case Management & Automation Tools wie JUNE machen aus Datenfluten juristisches Wissen. Sie destillieren die Essenz aus den Worten und ermöglichen so echtes datengetriebenes Arbeiten.
So extrahieren und strukturieren sie alle wesentlichen Daten aus den Dokumenten, etwa Dokumentenart, Aktenzeichen, Beteiligtendaten, Fristen und Falldaten. Doch KI kann nicht nur einfache Informationen auslesen, sondern erkennt auch komplexe Zusammenhänge, sowohl innerhalb eines Falles als auch aktenübergreifend.
Das einmal generierte Wissen vereinfacht beziehungsweise ermöglicht viele automatisierte Prozesse; im Beispiel von uns Juristen etwa Beteiligtenmanagement, Fristenberechnung, Reporting, Workflowsteuerung oder das automatische Erstellen von Schriftstücken.
Mehr als nur Extraktion: Echtes datengetriebenes Arbeiten
KI übernimmt nicht nur die Datenextraktion, sondern unterstützt beim datengestützten Arbeiten – und zwar nicht nur administrativ, sondern unmittelbar bei der anwaltlichen Wertschöpfung. KI versteht den gesamten Aktenbestand und fungiert als persönlicher Assistent sowie Wissenslieferant in Echtzeit.
Nutzer können alle Fragen zur Akte klären. KI kann inhaltlich zusammenfassen und chronologisch ordnen, alle Ansprüche, wesentlichen Argumente und Beweismittel auflisten. Dank Features wie einer semantischen Volltextsuche findet die KI nicht nur ähnliche Fallkonstellationen oder Rechtsfragen, sondern auch die passenden Argumentationen – in sämtlichen Akten, die man ihr zur Verfügung stellt. Und auch beim Entwurf von Gegenpositionen und juristischen Schreiben unterstützt die KI.
Darüber hinaus erhalten Nutzer auch Prognosen. KI kann zukünftige Trends und Ereignisse vorhersagen; zum Beispiel, ob ein Fall für mich oder für die Gegenseite von Erfolg gekrönt sein wird. Alles auf der Basis von Daten.
Mensch am Hebel
Der Mensch hält jedoch nach wie vor die Zügel in der Hand. Er legt fest, welche Fragen relevant sind. Definiert, welchen Anforderungen die Antworten genügen müssen. Gibt der KI Zusammenhänge vor, die sie – noch – nicht selbst kennt. Und er muss die Ergebnisse von KI überprüfen. Jedenfalls noch, bis wir die nächste Stufe der Evolution erreichen.
Autor: Björn Frommer ist Rechtsanwalt und Managing Partner der Kanzlei FROMMER LEGAL, Co-Founder und CEO von JUNE sowie Gründungsmitglied und Beirat des Legal Tech Verbands Deutschland. Seit Jahren engagiert er sich für technologiegestützte Lösungen im juristischen Bereich – zunächst mit eigener Abteilung innerhalb der eigenen Kanzlei. Heute wird diese Entwicklung mit JUNE konsequent fortgesetzt.