Neue Studie zur Zukunft digitaler Justiz
10.06.22 – Die neue Studie „The Future of Digital Justice“ zeigt Deutschlands Rückstand und liefert konkrete Lösungsansätze. Die Bucerius Law School (BLS), die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und der Legal Tech Verband Deutschland (LTV) vergleichen anhand von knapp fünfzig Experteninterviews den Stand der Digitalisierung der Justiz in Deutschland mit den Vorreiter-Nationen Singapur, Kanada, Großbritannien und Österreich. Das Fazit des Ländervergleichs: Deutschlands Politik muss die Strategie in Sachen Digitalisierung neu ordnen und Tempo aufnehmen. Wenn Deutschland es schafft, die Justiz systemisch zu digitalisieren statt Insellösungen zu entwickeln, kann es die Akzeptanz und Effizienz des Rechtssystems massiv erhöhen. Partielle Überlastung würde so überwunden und der Zugang zum Recht deutlich verbessert.
Wie es andere Länder machen
Die Studie zeigt, wie andere Länder ihre Justizsysteme digitalisieren. Verbindende Elemente dieser Ansätze sind die Steigerung der Effizienz der Gerichte, einschließlich der Beschleunigung von Verfahren; ein klares Bekenntnis zur Nutzerorientierung, einschließlich moderner Software und Prozessentwicklung; und die Einführung von Datenanalyse. Die wohl digitalste Justiz der Welt hat Singapur. Dies ist vor allem auf das einheitliche und lückenlose Online-Fallverwaltungssystem für alle Gerichtsbarkeiten und alle Beteiligten zurückzuführen. Parteien, Anwälte, Behörden, Richter und Sachverständige nutzen eine gemeinsame Plattform, auf der sie in Echtzeit miteinander kommunizieren und arbeiten können. Anwälte können jederzeit auf ihre Akten zugreifen, Termine für Anhörungen festlegen und an virtuellen Anhörungen teilnehmen. “Singapur ist ganz klar der Vorreiter in Sachen Digitalisierung der Justiz. Eine gemeinsame Plattform für alle Beteiligten eines Gerichtsverfahrens sollte auch das Ziel für Deutschland sein, damit unsere vielen rechtsstaatlichen Errungenschaften auch bei den Rechtsuchenden ankommen.”, so Dirk Hartung, Executive Director bei der Bucerius Law School und Co-Autor der Studie.
Im Bereich der Erfassung und Nutzung von Daten kann Großbritannien als Vorbild dienen. Die Einführung eines digitalen Fallmanagementsystems zur Erfassung von Leistungsdaten der Gerichte (z.B. Fallzahlen und -dauer) führte zu einem besseren Verständnis der Bedürfnisse aller Beteiligten, einer Effizienzsteigerung in der Verwaltung und verkürzt inzwischen sogar die durchschnittliche Verfahrensdauer. Anfängliche Bedenken bezüglich einer möglichen Überwachung einzelner Richter und zusätzlichem Aufwand durch die Datenerfassung haben sich nicht bestätigt. Das System ist heute ein wichtiger Pfeiler für die weitere Digitalisierungsreform in Großbritannien. “Die gezielte Nutzung von Daten wird bei der Digitalisierung der deutschen Justiz eine entscheidende Rolle einnehmen, Projekte wie in Großbritannien zeigen deren Nutzen”, so Hartung weiter.
Ein Vorbild sind auch die föderal organisierten Nationen Kanada und Österreich, die mit regionalen Leuchtturmprojekten und Reallaboren einzelner Bundesstaaten sowie nationaler Führung und Bündelung von Digitalisierungsressourcen in föderalen Systemen heute zu den Vorreiternzählen.Dasistbemerkenswert,weil FöderalismusinDeutschlandnichtseltenals Hindernis für Reformen angeführt wird. “Dass eine umfassende Reform auch und gerade in föderalen Systemen gelingen kann, zeigt die Studie anhand eines Projekts in Kanada besonders gut”, erklärt Dr. Philipp Plog, Vorstandsvorsitzender des Legal Tech Verbands Deutschland und Co-Autor der Studie. Das “Civil Resolution Tribunal” in British Columbia ist möglicherweise das fortschrittlichste Online-Gericht der Welt. Während des gesamten Verfahrens erfolgen alle Interaktionen mit dem Gericht und seinen Systemen vollständig digital. Das Gericht hat insgesamt fast 20.000 Streitfälle mit einer sehr hohen Nutzerzufriedenheit abgeschlossen: Nahezu 85 Prozent (einschließlich der unterlegenen Parteien) würden es weiterempfehlen. “Föderalismus kann die Digitalisierung sogar fördern, weil länderspezifische Besonderheiten von Anfang an berücksichtigt werden können.”, erklärt Plog. “Wir hoffen mit der Studie und den positiven Beispielen aus anderen föderalen Nationen vor allem auch die Justizminister der Länder in Deutschland zu erreichen, um schnell in die konkrete Umsetzung zu kommen”, so Plog weiter.
Die analysierten Länder haben es offenbar auch geschafft, die Diskussion um die Ausstattung der Justiz nicht allein aus einer Kosten-Perspektive zu führen, wie es in Deutschland angesichts von Massenverfahren zuletzt der Fall war. Sie erkennen systemische Digitalisierung vielmehr als Hebel, um die Leistungsfähigkeit der Justiz für Verbraucher und Unternehmen zu erhöhen. Des Weiteren wurde der Privatsektor stark eingebunden, um von dessen Know-how und Umsetzungsstärke zu lernen. Die analysierten Länder haben es offenbar auch geschafft, die Diskussion um die Ausstattung der Justiz nicht allein aus einer Kosten-Perspektive zu führen, wie es in Deutschland angesichts von Massenverfahren zuletzt der Fall war. Sie erkennen systemische Digitalisierung vielmehr als Hebel, um die Leistungsfähigkeit der Justiz für Verbraucher und Unternehmen zu erhöhen. Des Weiteren wurde der Privatsektor stark eingebunden, um von dessen Know-how und Umsetzungsstärke zu lernen.
Was das für Deutschland bedeutet
Die Studie zeigt, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Justiz noch einen weiten Weg vor sich hat. Die in Deutschland eingesetzten technischen Lösungen sind vergleichsweise wenig vertreten, veraltet und nicht ausreichend nutzerorientiert. Zudem werden sie uneinheitlich in den einzelnen Bundesländern, Gerichten und Fachgerichtsbarkeiten umgesetzt. “Die Digitalisierung der Justiz hinkt hinter den führenden Ländern hinterher, während die Überlastung der Gerichte, der Kostendruck und die bevorstehende Pensionierungswelle (über 25 Prozent aller Richter werden bis 2030 in den Ruhestand gehen) den Druck zur Modernisierung und Digitalisierung der Gerichte erhöhen.“, sagt Christian Veith, Senior Advisor bei BCG und Co-Autor der Studie.
“Zu Beginn muss sich Deutschland das Ziel setzen, eine führende Rolle im Bereich der digitalen Justiz zu übernehmen. Klar definierte Führungsstrukturen – idealerweise auf Ministerebene – sind dabei unerlässlich. Es müssen erhebliche Haushaltsmittel bereitgestellt und mehrjährige Beschaffungsverfahren neu konzipiert werden. Wir sollten auch die Erfahrungen des Privatsektors nutzen, um schneller zu Ergebnissen zu gelangen.” so Dr. Philipp Plog.
Die Umsetzung könnte sich an drei Elementen orientieren: der Steigerung der Effizienz der Gerichte, einschließlich der Beschleunigung von Verfahren; einem klaren Bekenntnis zur Nutzerorientierung, einschließlich moderner Software und Prozessentwicklung; und einer zeitnahen Einführung von Datenanalyse, um die relevanten Informationen zur Ermittlung und Lösung der dringendsten Probleme bereitzustellen. Dazu ergänzend Dirk Hartung: “Wenn Deutschland seine derzeitige Digitalisierungsstrategie fortsetzt, werden wir womöglich die nächsten Jahre mit der Digitalisierung bestehender Gerichtsverfahren und der Verbesserung bestehender Lösungen verbringen. Damit sorgen wir aber weder für einen besseren Zugang zum Recht, noch steigern wir die Effizienz oder setzen neue Technologien sinnvoll ein. Ein Weitermachen wie bisher ist daher keine gute Option.”
Über die Studie
Für die Studie wurden knapp 50 Tiefeninterviews mit Richtern, Sachbearbeitern und IT-Managern von Gerichten, Regierungsbeamten, Syndikusanwälten, Partnern und Managern von Großkanzleien, Vorstandsmitgliedern von Wirtschaftsverbänden und Wissenschaftlern, Geschäftsführern von Sozietäten, Inhabern und Geschäftsführern, von Versicherungsunternehmen, Vorstandsmitgliedern von Wirtschaftsverbänden sowie Wissenschaftlern geführt. Die Interviews wurden durch umfangreiche Recherchen, Analysen und Auswertungen der vorhandenen Literatur ergänzt. Anhand eines detaillierten Ländervergleichs leitet die Studie außerdem konkrete Lösungsvorschläge und strategisch notwendige Schritte für Deutschland her.
Die Studie kann hier als PDF runtergeladen werden.
Text: © Pressemitteilung Legal Tech Verband Deutschland