Neue Bürger:innenplattform will Veröffentlichung von einer Million Gerichtsurteilen erreichen
Nur rund 1 % der in Deutschland gefällten Gerichtsurteile sind öffentlich zugänglich. Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Urteile sind etwa notwendig, um die Anwendung von Gesetzen im Einzelfall zu konkretisieren. Bürger:innen können erst dann wirklich verstehen, was verboten und was erlaubt ist. So können bspw. Beamt:innen durch die Lektüre von Urteilen konkret nachvollziehen, welche beamtenrechtlichen Folgen ihr Verhalten in privaten Chatgruppen haben kann. Aber auch für die Justiz selber können sich viele Vorteile ergeben. Können Richter:innen etwa sehen, wie andere Kolleg:innen in vergleichbaren Fällen entschieden haben, können sie einheitlicher urteilen und den Ladendieb in Hamburg, bei gleichem Verhalten, so behandeln, wie den Ladendieb in Regensburg. Auch könnten Urteile schneller ergehen, da vergleichbare Fälle als Inspirationsquelle genutzt werden können und das Rad nicht immer wieder neu erfunden wird. Schließlich kann die (Fach-)Öffentlichkeit erst dann auf Entwicklungen in der Rechtsprechung reagieren, wenn sie diese einsehen kann. So kann eine wirkliche Debatte bspw. über die Verhältnismäßigkeit von Hausdurchsuchungen bei Äußerungsdelikten erst dann geführt werden, wenn ersichtlich ist, wann Ermittlungsrichter:innen diese in Beschlüssen grundsätzlich in der Praxis zulassen.
Die heute gestartete Kampagne „OffeneUrteile“ will die zurückhaltende Veröffentlichungspraxis mit Blick auf Urteile vor diesem Hintergrund radikal ändern. Ziel ist es bis zu einer Million bislang unveröffentlichter Urteile durch Bürger:innenanfragen bei den Gerichten öffentlich zu machen. Initiator:innen der Kampagne sind der openJur e. V., die Anita Legal GmbH, die dejure.org Rechtsinformationssysteme GmbH, FragDenStaat und der Transparency International Deutschland e.V.
Die Kampagne reagiert auf die anhaltende politische Unsicherheit rund um die stärkere Publizität von Gerichtsentscheidungen. So liegt bereits eine, noch unter der Ampel-Regierung auf Basis des damaligen Koalitionsvertrages entwickelte, Vorstufe eines Gesetzentwurfs zur verpflichtenden Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen im Bundesjustizministerium vor. Die Bundesregierung hat auch auch erste Schritte für den Roll-Out einer bundesweiten Pseudonymisierungslösung, die eine stärkere Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen technisch absichern soll, getätigt. Diese Entwicklung droht jedoch angesichts politischer Wechsel und einer fehlenden Priorisierung des Projektes im Koalitionsvertrag unter der Regierung von Bundeskanzler Friedrich Merz verlangsamt zu werden. Daher setzt „OffeneUrteile“ nun auf gezielte Bürger:innenbeteiligung und öffentlichen Druck, um die dringend notwendige Transparenz in der deutschen Justiz voranzutreiben und das Thema weiter auf die Tagesordnung zu setzen.
Benjamin Bremert, Vorsitzender von openJur e. V., betont die gesellschaftliche Bedeutung des Projekts: „Nur wenn wir das Recht kennen, können wir es aktiv gestalten und verändern. Unsere Kampagne gibt Bürger:innen erstmals eine einfache Möglichkeit, direkt Transparenz einzufordern.“
Unterstützt wird die Kampagne auch von der KI-Rechercheplattform Anita. Til Bußmann-Welsch, Mitgründer von Anita, sieht darin einen wichtigen Schritt für die Rechtsstaatlichkeit: „99 % der Urteile verschwinden bisher in Aktenschränken. Doch größere Transparenz kann das Vertrauen in die Justiz stärken. Auch die technologischen Lösungen zur Verarbeitung großer Datenmengen stehen lange bereit – nun ist die Politik gefragt, konsequent zu handeln.“
Das Vorgehen ist einfach und kostenlos für die Bürger:innen: Auf der Webseite www.offeneurteile.de können Interessierte unkompliziert die Veröffentlichung einzelner Urteile anfragen. Die Plattform kümmert sich anschließend automatisch um die Kommunikation mit den zuständigen Gerichten und stellt die Urteile, nach Freigabe durch die Gerichte, frei zugänglich auf www.openjur.de zur Verfügung. Daneben verfügt die Initiative über bis zu 1.000.000 Aktenzeichen zu nicht veröffentlichten Gerichtsentscheidungen, die parallel bei den Gerichten zur Veröffentlichung angefragt werden. Um die Gerichtsverwaltungen jedoch nicht mit massenweisen Anfragen zu überlasten, werden die Anfragen intelligent gesteuert.
Europäische Länder wie Frankreich, Italien, Estland, Rumänien, die Niederlande oder Belgien haben bereits erfolgreiche Schritte in Richtung einer umfassenderen Urteilsveröffentlichung unternommen. Deutschland muss nun ebenfalls den nächsten Schritt gehen, fordern ebenso Transparency International und FragDenStaat. „Eine demokratische Gesellschaft braucht transparentes staatliches Handeln, besonders in der Justiz“, heißt es von Arne Semsrott, Leiter bei FragDenStaat. „Deutschland liegt bei Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen hinter EU und USA“ heißt es von Heribert Hirte aus dem Vorstand von Transparency.
Die Initiatoren von „OffeneUrteile“ rufen die Öffentlichkeit nun dazu auf, das Projekt aktiv zu unterstützen und die politische Dringlichkeit hervorzuheben. Nur durch starken gesellschaftlichen Rückhalt könne der Druck auf die Regierung erhöht und eine umfassende Veröffentlichungspflicht für Gerichtsurteile durchgesetzt werden.
Weitere Informationen zur Kampagne und Teilnahme unter www.offeneurteile.de






