10 Thesen zur Zukunft der Rechtsberatung in Deutschland

Der Rechtsmarkt wandelt sich exponentiell. Die Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) verändern den Arbeitsalltag von Anwältinnen und Anwälten in Rechtsabteilungen und Kanzleien. Das tradierte Geschäftsmodell der gesamten Branche wird sich grundlegend ändern. Dieser Beitrag fasst die zukünftigen Entwicklungen in zehn Thesen zusammen.
1. Die Zukunft der Rechtsberatung ist digital
Die Digitalisierung ist keine bloße Ergänzung juristischer Arbeitsweisen, sondern eine fundamentale Transformation. Rechtsdienstleistungen werden zunehmend digitalisiert, automatisiert und über Plattformen angeboten. Generative KI und Legal Tech verändern bereits heute den Arbeitsalltag in Kanzleien und Rechtsabteilungen. Laut einer Studie der Europäischen Kommission (2023) hat sich der Einsatz digitaler Technologien in der Justiz und Rechtsberatung in den letzten fünf Jahren verdoppelt.
2. Legal Tech ist erst der Anfang einer tiefgreifenden Transformation
Legal Tech-Tools wie Vertragsgeneratoren oder automatisierte Dokumentenanalysen sind nur die Spitze des Eisbergs. Die eigentliche Veränderung liegt in der umfassenden Automatisierung juristischer Prozesse. Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb (2023) belegt, dass Legal Tech-Anwendungen z.B. die Bearbeitungszeit von Standardverträgen um bis zu 70 % reduzieren können. Dies verändert nicht nur die Art und Weise, wie Rechtsberatung erbracht wird, sondern auch, wer sie anbietet.
3. Künstliche Intelligenz wird zur Kerntechnologie der Rechtsberatung
KI-Systeme werden zunehmend komplexe Aufgaben übernehmen. Während einfache Dokumentenprüfungen bereits automatisiert sind, entwickeln sich KI-Modelle weiter und können in naher Zukunft fundierte juristische Einschätzungen abgeben. Erste Anwendungen für Predictive Analytics, also die Vorhersage rechtlicher Entscheidungen auf Basis von Daten, sind bereits im Einsatz. Laut einer McKinsey-Studie (2023) sind 44 % der juristischen Tätigkeiten potenziell durch KI automatisierbar, insbesondere in der Rechtsrecherche und Vertragsprüfung.
4. Traditionelle Kanzleien müssen sich strategisch neu ausrichten
Der klassische Kanzleibetrieb mit papierbasierten Akten und starren Strukturen verliert an Bedeutung. Zukunftsfähige Kanzleien müssen interdisziplinär arbeiten und neben juristischen Fachkräften auch Legal Engineers, Datenanalysten und IT-Spezialisten integrieren. Laut einer Umfrage des Deutschen Anwaltsvereins (2024) sehen 78 % der Kanzleien in interdisziplinären Teams eine Schlüsselstrategie zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
5. Neue Geschäftsmodelle und Preismodelle setzen sich durch
Die Abrechnung nach Stundenhonoraren wird zunehmend von alternativen Modellen abgelöst. Abo-Modelle für standardisierte Rechtsdienstleistungen, Erfolgshonorare und hybride Beratungsformen, die KI-gestützte Analysen mit menschlicher Expertise kombinieren, gewinnen an Bedeutung. Eine Untersuchung der Universität St. Gallen (2023) zeigt, dass Mandanten verstärkt pauschale und erfolgsabhängige Vergütungsmodelle bevorzugen, um Kosten transparenter zu gestalten.
6. Gerichtsverfahren werden zunehmend digitalisiert
Auch die Justiz steht vor einem digitalen Wandel. Die Einführung von Videoverhandlungen, digitalen Akten und KI-gestützten Recherchetools verändert den Gerichtsalltag. Die Digitalisierung reduziert Verfahrensdauer und Kosten, erfordert jedoch auch neue technische Standards und Infrastrukturen. Eine Studie des EU-Justizbarometers (2023) zeigt, dass Länder mit hohem Digitalisierungsgrad in der Justiz durchschnittlich 30 % schnellere Verfahrensabwicklungen haben.
7. Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen wird Transparenz und Effizienz steigern
Bisher werden nur wenige Gerichtsentscheidungen in Deutschland veröffentlicht. Eine umfassende Digitalisierung der Rechtsprechung würde die Transparenz erhöhen und eine bessere Orientierung für Rechtsanwender ermöglichen. KI-gestützte Suchmaschinen könnten Gerichtsentscheidungen effizienter analysieren und so Juristen die Arbeit erleichtern. Ein Bericht des Fraunhofer-Instituts (2024) hebt hervor, dass der Zugang zu einer strukturierten und maschinenlesbaren Urteilsdatenbank die Effizienz der Rechtsrecherche um 40 % steigern könnte.
8. Die Regulierung des Rechtsmarktes steht vor Umbrüchen
Der Gesetzgeber wird sich mit der Regulierung neuer Technologien im Rechtswesen auseinandersetzen müssen. Auch wenn das Verbot der Beteiligung reiner Finanzinvestoren am Kapital einer Rechtsanwaltsgesellschaft in Deutschland laut EuGH zulässig ist, wird der Rechtsmarkt tiefgreifende Veränderungen erleben. Gleichzeitig entstehen neue Fragen zur Haftung und Verantwortung bei KI-generierten Rechtsgutachten oder automatisierten Entscheidungen. Eine Analyse der OECD (2023) hebt hervor, dass regulierte Rechtsmärkte, die Investitionen in Kanzleien zulassen, eine höhere Innovationsrate aufweisen.
9. Die Erwartungen der Mandanten verändern sich radikal
Mandanten erwarten zunehmend eine schnelle, transparente und kosteneffiziente Rechtsberatung. Digitale Plattformen ermöglichen es ihnen, Angebote verschiedener Kanzleien direkt zu vergleichen und automatisierte Erstberatungen in Anspruch zu nehmen. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung (2024) nutzen bereits 65 % der Verbraucher Online-Rechtsplattformen, um juristische Erstinformationen einzuholen.
10. Juristinnen und Juristen benötigen neue Fähigkeiten
Die klassischen juristischen Kompetenzen allein reichen nicht mehr aus. Technologisches Verständnis, Datenanalyse, interdisziplinäre Zusammenarbeit und agiles Projektmanagement werden immer wichtiger. Kanzleien und Rechtsabteilungen müssen ihre Mitarbeiter in diesen Bereichen weiterbilden, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Eine Umfrage der Universität Münster (2023) ergab, dass 82 % der Juristinnen und Juristen in Deutschland der Meinung sind, dass digitale Kompetenzen künftig eine zentrale Rolle in der juristischen Ausbildung spielen sollten.
Fazit: Die digitale Zukunft aktiv gestalten
Die Digitalisierung der Rechtsberatung ist unausweichlich und eröffnet neue Chancen, birgt aber auch Herausforderungen. Juristinnen und Juristen müssen sich frühzeitig mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen, um nicht von der Welle der Veränderung überrollt zu werden. Diejenigen, die sich aktiv an der Gestaltung der digitalen Zukunft des Rechtsmarkts beteiligen, werden langfristig erfolgreich sein.
Autor: Dr. Alexander Steinbrecher, LL.M. (Tulane) zählt laut Legal 500 seit Jahren zu den innovativsten und einflussreichsten Unternehmensjuristen in Deutschland. Er ist u.a. Mitherausgeber des „Handbuchs Digitale Rechtsabteilung“ (C.H. Beck Verlag); im Juni 2025 erscheint das Buch „Die Zukunft der Rechtsberatung“ (ebenfalls im C.H. Beck Verlag), das er gemeinsam mit Dr. Daniel Halft herausgibt.