Warum die Billable Hour auch generative KI überleben wird
Die Billable Hour gilt seit Jahrzehnten als Auslaufmodell, doch alle Prognosen über ihr Ende haben sich bislang als falsch erwiesen. Auch die aktuelle Diskussion um generative KI zeigt vor allem Denkfehler und überzogene Erwartungen.
Abraham Lincoln soll gesagt haben: „A lawyer’s time and advice are his stock and trade.“ Heute, über 150 Jahre später, wird diese These zunehmend infrage gestellt. In zahlreichen Beiträgen selbsternannter KI-Experten heißt es, das Abrechnungsmodell der Billable Hour stehe durch Künstliche Intelligenz vor dem Aus. Solche Vorhersagen gibt es seit Jahrzehnten und geändert hat sich nichts, außer die Ursache für das vermeintliche Billable-Ende. Diesmal ist es Künstliche Intelligenz.
Auch der Gastbeitrag „Das Ende der abrechenbaren Stunde: Die 900-Milliarden-Dollar-Neubewertung durch KI im Rechtswesen“ reiht sich dort ein. Die darin angekündigten Effizienzsteigerungen wirken übertrieben. So soll eine M&A-Due-Diligence künftig nicht mehr 500, sondern nur noch 48 Stunden dauern. Die Kosten würden entsprechend auf 5.000 Dollar sinken – statt bisher 500.000. Unter „The most vulnerable practice areas“ nennt der Autor auch „Litigation Intelligence“, verbunden mit angeblichen Zeitersparnissen von 70 bis 85 Prozent durch künstliche Intelligenz. Was genau „Litigation Intelligence“ sein soll, bleibt offen. Ich habe mehrere Jahre in großen Litigation-Teams gearbeitet und kann sagen: So etwas wie „Litigation Intelligence“ existiert nicht.
Unabhängig davon, dass aktuelle Technologien noch weit davon entfernt sind, eine Due Diligence verlässlich durchzuführen oder rechtssichere Verträge zu erstellen – von Halluzinationen ganz zu schweigen – zeigt der Artikel weitere Denkfehler, die sich in der laufenden Diskussion häufen.
Zunächst zum Offensichtlichen: Warum sollte eine Kanzlei eine Leistung, die 48 Stunden dauert, für 5.000 Dollar anbieten? Das entspricht einem Stundensatz von knapp 100 Dollar. In den USA verlangen einige Großkanzleien bereits über 1.000 Dollar pro Stunde. Es ist nicht plausibel, dass Kanzleien sich durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz gleich doppelt kannibalisieren.
Ein weiterer Denkfehler betrifft die Annahme, dass die Billable Hour Kanzleien davon abhält, produktiver zu arbeiten, weil sie damit ihre Rentabilität gefährden würden. Das mag im Einzelfall zutreffen, greift aber zu kurz. Die Billable Hour ist auch Ergebnis einer Mischkalkulation. Juristische Arbeit dauert häufig lange, und oft lässt sich nicht im Voraus abschätzen, wie viel Zeit ein Mandat beanspruchen wird. Der Blick auf M&A-Transaktionen zeigt das deutlich: Trotz erheblicher Effizienzgewinne – etwa durch virtuelle Datenräume, die seit den 2000er Jahren genutzt werden – ist die Dauer von Due Diligences nicht kürzer geworden. Und das, obwohl virtuelle Datenräume damals als Revolution gefeiert wurden. Heute sitzt kein Associate mehr in einem Raum voller Aktenordner. Trotzdem dauern Deals lange. Nicht, weil Kanzleien keinen Anreiz zur Effizienz hätten, sondern weil regulatorische und rechtliche Anforderungen immer komplexer werden. Wer trotzdem glaubt, eine Due Diligence lasse sich bald in 48 Stunden erledigen, reduziert sie auf das bloße Lesen von Dokumenten und das Ausfüllen von Excel-Tabellen. Doch genau diese Tätigkeiten übernehmen einfache Legal-Tech-Tools bereits seit Jahren teilweise, ohne, dass sich am Abrechnungsmodell viel geändert hätte. Diese Fehleinschätzung betrifft daher nicht nur Tools, sondern auch die Wahrnehmung juristischer Arbeit insgesamt. Viele unterschätzen, wie komplex selbst alltägliche Beratungsthemen sind. Dies nicht zu erkennen, liegt auch daran, dass viele „Legal-AI-Experten“ selbst nie juristisch gearbeitet haben oder uns ein Tool verkaufen wollen – oder beides.
Ein drittes Argument betrifft die wirtschaftliche Bewertung der KI-Arbeit. Alles, was künstliche Intelligenz innerhalb von Sekunden erledigt, hat schon heute faktisch keinen wirtschaftlichen Wert mehr. Denn Daten extrahieren und erste Entwürfe erstellen können wir alle, es sei denn, die Tools auf Seiten der Kanzleien wären exklusiv und rechtfertigten dadurch ein Honorar. Doch diese Exklusivität gibt es (noch) nicht. Kanzleien nutzen weitgehend dieselben Anwendungen. Viele davon sind bloße Hüllen über großen Sprachmodellen mit Zusatzfunktionen. Manche Kanzleien bauen eigene Chatbots, doch auch diese basieren auf Systemen wie ChatGPT. Mandanten können sich diese Tools entsprechend selbst beschaffen. Warum sollten sie für Ergebnisse zahlen, die auf Kanzleiseite durch dieselben Tools erzeugt wurden?
Genau hier liegt ein strukturelles Problem: Die heutigen Legal-AI-Angebote konzentrieren sich auf Datenextraktion, Zeitstrahlen und Zusammenfassungen. Wollen Kanzleien diese Anwendungen weiterverkaufen, begeben sie sich in ein Feld, in dem sie nicht exklusiv agieren, sondern mit technischen Dienstleistern konkurrieren. Diese können Mandanten genauso gut beauftragen. Der Kostendruck steigt dadurch. Offen bleibt daher, ob für diese Vorarbeiten künftig überhaupt noch Honorare gezahlt werden. Es ist ebenso denkbar, dass diese KI-basierten Ergebnisse selbstverständlich kostenlos sind – und nur noch das, was die künstliche Intelligenz nicht leisten kann, von Anwältinnen und Anwälten übernommen wird. Und wie wird diese Arbeit abgerechnet? Eben durch die Billable Hour – warum auch nicht? Anders könnte die Welt aussehen, wenn künstliche Intelligenz tatsächlich ganze Mandate allein bearbeiten könnte. Doch davon sind wir technisch noch weit entfernt. Und selbst wenn es möglich wäre, heißt das nicht, dass wir es auch wollen. Wir sehen es schon beim autonomen Fahren: Obwohl Autos autonom theoretisch sicherer fahren könnten als Menschen, sorgen Unfälle mit ihnen für weitaus größere Empörung als Unfälle mit menschlichen Fahrern. Denn wenn etwas schiefläuft, wollen wir jemanden zur Verantwortung ziehen. Genau dieses Bedürfnis nach Verantwortung ist im Rechtsbereich noch stärker ausgeprägt und spricht dafür, dass Anwältinnen und Anwälte weiterhin unverzichtbar bleiben.
Auch Junior Associates werden nach meiner Beobachtung in mehreren Kanzleien nicht einfach automatisiert, auch wenn wir überall das Gegenteil lesen. Zwar sinkt die Zahl der Neueinstellungen, doch das allein auf KI zurückzuführen, wäre angesichts der wirtschaftlichen Lage zu kurz gedacht. Der Alltag von Berufsanfängerinnen und -anfängern besteht nicht nur aus Datenextraktion, Sachverhaltszusammenfassungen und Zeitstrahlen – auch wenn viele Anbieter diesen Eindruck vermitteln wollen. Wenn Anbieter und der Bundesverband Deutscher Unternehmensberatungen trotzdem verkünden „KI liefert heute 60 bis 80 Prozent der Qualität eines menschlichen Ergebnisses – in wenigen Minuten“, ist das entweder falsch, oder es sagt weniger über die Fähigkeiten aktueller KI-Tools aus, als über das Selbstverständnis vom Mehrwert, den Beratungen liefern.
Wer zu dem Thema einen differenzierten Einblick haben möchte, sollte den Artikel „How The Billable Hour Can Survive Generative AI“ von Jonah Perlin lesen. Er zeigt, wie sich Kanzlei-Umsätze tatsächlich zusammensetzen und belegt, dass Kanzleien auch beim Einsatz künstlicher Intelligenz genügend Stellschrauben haben, um das Modell der Billable Hour fortzuführen.
Autor: Tobias Voßberg ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz. Er schreibt regelmäßig über den Einsatz von KI in der Rechtsberatung und ihre rechtlichen Implikationen. Als Speaker und Workshop-Leiter zeigt er, wie Kanzleien und Unternehmen neue Technologien praxisnah nutzen können.






