Fachartikel

KI-Assistenten im Rechtsmarkt: Ein deutsch-kenianischer Erfahrungsbericht

Bei der Erwähnung von Legal Tech und Kenia denken viele zunächst an Safaris und unterentwickelte Regionen, dann auch an Verbesserungen beim Zugang zum Recht. Diese Vorstellungen erfassen jedoch nur einen Bruchteil der Realität. Die kenianische Legal-Tech-Landschaft erweist sich als weitaus komplexer und bietet eine innovative Umgebung, die westliche Vorurteile grundlegend in Frage stellt.

Mein Weg nach Kenia

Ich bin Maria Petrat, deutsche Volljuristin mit achtjähriger Erfahrung im Bereich Legal Innovation. Meine berufliche Reise nach Kenia begann im Januar 2023 mit der Wahlstation meines Referendariats in einer deutsch-kenianischen Kanzlei in Nairobi. Im Gegensatz zu früheren touristischen Aufenthalten in Afrika wollte ich dieses Mal das normale Leben und die Arbeitswelt in einer pulsierenden afrikanischen Metropole kennenlernen – und Nairobi hat mich definitiv nicht enttäuscht. 

Getrieben von persönlichem und fachlichem Interesse, knüpfte ich umgehend Kontakte zu lokalen Experten der Legal-Tech-Szene und etablierte rasch ein Netzwerk, das mir viele neue und spannende Einblicke bot. 
Die „Silicon Savannah“

Nairobi präsentiert sich als dynamischer Technologie-Standort, der zu Recht den Beinamen „Silicon Savannah“ trägt. Die Stadt zählt zu den führenden Startup-Ökosystemen Afrikas und zieht beachtliche Investitionen an.

Trotz oftmals begrenzter finanzieller Ressourcen – oder gerade deswegen – zeichnet sich die hiesige Startup-Szene durch besondere Innovationskraft aus. Viele kenianische Unternehmen entwickeln wegweisende, oft mobile Lösungen, die traditionelle Systeme in Frage stellen. Ein Paradebeispiel hierfür ist M-Pesa: ein mobiles Zahlungssystem, das es einem ermöglicht, direkt über die eigene Mobilnummer Geld zu versenden und das täglich von Millionen Menschen in der ganzen Region genutzt wird.

Bemerkenswert ist auch die Aufgeschlossenheit gegenüber Neuerungen, selbst in der traditionell eher konservativen Rechtsbranche. Diese progressive Atmosphäre in Verbindung mit der hohen Lebensqualität in Nairobi bestärkte mich in meinem Entschluss, meinen nächsten beruflichen Abschnitt hier zu gestalten.

Einblicke in die lokale Innovation

Und das tat ich dann auch – mein Engagement in der Legal-Tech-Szene Nairobis führte mich zu einer interessanten beruflichen Chance: Seit ein paar Monaten bin ich bei 637 Capital, einem lokalen Softwareunternehmen, als Head of Legal and Business Development tätig. Unser Ziel ist es, die Legal-Tech-Landschaft in Ostafrika nachhaltig zu prägen, indem wir innovative Softwarelösungen entwickeln. Daneben bieten wir auch Finanzberatung in diversen Branchen an, daher der Unternehmensname. Unsere Software transformiert unstrukturierte Daten in wertvolle Erkenntnisse und optimiert so juristische Arbeitsabläufe erheblich.

JibuDocs: KI-gestützte juristische Innovation

Unser Vorzeigeprodukt JibuDocs (Kiswahili für „Antwort“) ist ein KI-basiertes Dokumentendigitalisierungs-Tool. Es extrahiert intelligent Schlüsselinformationen aus physischen und digitalen Dokumenten und konvertiert diese in durchsuchbare, strukturierte digitale Formate. Die Besonderheit von JibuDocs liegt in seinem kontextbezogenen Verständnis, das eine maßgeschneiderte und effiziente Nutzung ermöglicht.

Auf dieser Technologie basierend haben wir eine leistungsfähige Rechercheplattform entwickelt, die über 600.000 ostafrikanische Rechtsdokumente, wie Gesetze, Gazette-Mitteilungen und Gerichtsentscheidungen umfasst. Die Plattform bietet fortschrittliche Suchfunktionen, einen KI-gestützten Chatbot und lässt sich in bestehende Dokumentenmanagement-Systeme integrieren. Zahlreiche führende Kanzleien der Region sowie drei der vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften setzen bereits auf unser Tool.

Weiterentwicklung und Anwendungsfelder

Unsere Begeisterung für Innovation geht über das reine Dokumentenmanagement hinaus. Wir haben ein Online-Tool entwickelt, das den aufwändigen Prozess des „Tenth-Lining“ für Berufungsanträge automatisiert – eine spezifische Anforderung der hiesigen Prozessordnung. In Kooperation mit PwC bieten wir zudem ein Tool zur Aufbereitung und Zusammenfassung wichtiger Gerichtsentscheidungen des Tax Tribunals via Newsletter an. Diese werden hier nur im PDF-Format veröffentlicht und sind daher besonders begehrt. Ein weiteres Projekt widmet sich der Analyse der kenianischen Finance Bill 2024. Unser aktuell interessantestes Projekt zielt darauf ab, richterliche Präzedenzfälle mittels unseres umfangreichen Datenbestands besser analysierbar zu machen.

Marktlücke und Zukunftsperspektiven

Während global etablierte Lösungen wie LexisNexis oder Westlaw existieren, erweisen sich diese für viele lokale Kanzleien in Kenia und der Region oft als wirtschaftlich unrentabel. Dies liegt zum einen an den hohen Kosten, zum anderen am Mangel an umfassenden lokalen Daten.

JibuDocs adressiert genau diese Marktlücke. Wir entwickeln nicht nur maßgeschneiderte Lösungen für den ostafrikanischen Rechtsmarkt, sondern schaffen auch eine Grundlage für die weitergehende Integration von KI-Anwendungen in diesem Sektor. 

Unser Ansatz geht jedoch über reine Technologieentwicklung hinaus – wir streben danach, lokale Kontexte, Herausforderungen und Möglichkeiten zu verstehen, um nachhaltige Innovationen voranzutreiben.

Herausforderungen und Chancen

Die Implementierung von Legal-Tech-Lösungen in Ostafrika ist mit spezifischen Herausforderungen verbunden, darunter oft knappe Budgets, unterschiedliche Grade an technischem Wissen und die Notwendigkeit, Einflüsse verschiedener Rechtssysteme (Common Law, Civil Law und Gewohnheitsrecht) zu berücksichtigen. Diese Herausforderungen eröffnen jedoch auch Chancen für innovative, anpassungsfähige Lösungen, die möglicherweise sogar den etablierten, aber oft weniger flexiblen Systemen in anderen Teilen der Welt überlegen sein könnten.

Ausblick

Meiner Einschätzung nach hat Kenia das Potenzial, sich zu einem Vorreiter für technologische Innovation zu entwickeln. Mit seiner jungen, technikaffinen Bevölkerung und wachsender wirtschaftlicher Bedeutung bietet das Land ideale Voraussetzungen für transformative Technologien. Bei 637 Capital sind wir enthusiastisch darüber, Teil dieser Entwicklung zu sein und Lösungen zu erarbeiten, die nicht nur lokale Bedürfnisse erfüllen, sondern auch auf globaler Ebene Anwendung finden können.

Autorin: Maria Petrat ist derzeit Head of Legal and Business Development bei 637 Capital in Nairobi, Kenia. Sie ist deutsche Volljuristin und Expertin für Legal Tech mit einem Design Thinking Abschluss vom Hasso-Plattner-Institut. Nebenberuflich hat sie Responsible Innovators mitgegründet und treibt dort die globale Vernetzung mit Partnerorganisationen insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent voran.

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