Fachartikel

It’s not just a hype

Es war 1993, als das Internet durch AOL so richtig in Fahrt kam. Im gleichen Jahr äußerte Microsoft-Gründer Bill Gates über das Phänomen: „it’s just a hype“.

Ähnlich äußern sich heute viele Anwaltskollegen über das Phänomen der künstlichen Intelligenz. Einige davon erkennen zwar durchaus an, dass KI-Tools in den Arbeitsalltag einziehen werden, wie es beispielsweise elektronische Akten oder digitale Datenbanken taten.

Die tatsächlichen Auswirkungen werden aber sehr viel fundamentaler sein. Sie werden weit über die Möglichkeit, den „Grüneberg“ als Chatbot zu nutzen, hinausgehen. Sehr viele Praktizierende verdrängen das aus einer Mischung aus Ignoranz (Unverständnis von exponentiellen Entwicklungen), Verdrängung („Was ich kann, kann doch kein Computer“) und Angst (vorm Verlust der wirtschaftlichen Existenz).

Wie ist die Ausgangslage?

„Computer sind nutzlos. Sie können nur Antworten geben.“ So soll sich damals Pablo Picasso in den 1950er Jahren über das neue Phänomen des Computers geäußert haben. Diese These wird durch das Aufkommen von KI wieder erstaunlich aktuell.

Viele denken bei Künstlicher Intelligenz zuerst oder ausschließlich an die allseits bekannten Chatbots wie ChatGPT, Co-Pilot, Perplexity, Grok usw., und halten deren Fähigkeiten für einen netten Trick. Man habe jetzt quasi ein besseres Google, aber ohne besondere juristische Kompetenz.

Tatsächlich erleichtern jene Tools aber bereits heute die juristische Arbeit. Sie können z.B. in wenigen Sekunden komplexe und umfangreiche Dokumente nach bestimmten Inhalten durchsuchen, zusammenfassen oder mit einem vorgegebenen Standard abgleichen.

Es gibt auch erste, speziell juristische KI-Anwendungen. Das Problem: Diese leiden, wie die „Mainstream-Modelle“ auch, derzeit noch an fehlender Verlässlichkeit der Antworten. Teilweise wird halluziniert Aber die Modelle werden diesbezüglich immer besser. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Genauigkeit so hoch ist, dass die Berufsrechtler diskutieren, ob es pflichtwidrig ist, den Einsatz von KI zu unterlassen.

KI hört aber nicht beim Chatbot auf. Sprachmodelle geben eine Antwort auf eine Frage. Was aber, wenn die KI Rückfragen stellen könnte und – wie ein Anwalt – mehr Informationen verlangen würde? Was, wenn der Anwender gar nicht mehr prompten müsste, sondern die KI schon genau wüsste, was zu tun ist? Genau dies werden sogenannte KI-Agenten übernehmen.

Die KI-Revolution folgt bestimmten Grundannahmen

KI wird jeden Berufszweig gewaltig beeinflussen, besonders aber den juristischen. Was sind die Prinzipien dahinter?

Die Rechenleistung wird immer größer und günstiger. Das Quantencomputing klopft an. KI-Modelle werden immer besser und leistungsfähiger, sogar die sagenumwobene AGI [Artificial General Intelligence] soll nicht mehr weit sein, wenn man OpenAI glaubt.

KI-Sprachmodelle sind besonders gut in der Textanalyse. Und die Rechtspraxis besteht vor allem aus Text.

Der menschliche Aufwand bei der Rechtsanwendung besteht zu größten Teilen aus Dokumentenprüfung, -erstellung, Korrespondenz und Aktenverwaltung einerseits, sowie analoger Kommunikation (z.B. Termine mit Mandanten, Gerichten u.a.) andererseits. KI-Tools reduzieren den Aufwand für alles, was sich digital erledigen lässt, auf ein Minimum. Nur noch analoge Kommunikation wird gleich aufwendig bleiben (und selbst hier stehen z.B. Telefonbots, die Neumandanten abklopfen, vor der Tür!).

Bereits heute gibt es eine Nachfrage nach Rechtsberatung, die für den durchschnittlichen Anwalt nicht wirtschaftlich abzubilden ist, insbesondere Mandate mit Niedrigst-Streitwerten. Umgekehrt können und möchten Mandanten für eine Angelegenheit von relativ geringem Wert keine vergleichsweise hohen Anwaltshonorare bezahlen.

Die juristische Welt von morgen


Die folgenden Prognosen sind in meinen Augen das, was sich aus oben genannten Prinzipien ableiten lässt:

Das Frontend von (Anwalts-)Software wird sich ändern. Der Anwender wird sich nicht mehr durch das Rechnungstool klicken und Gebührentatbestände auswählen müssen, sondern der KI-Agent regelt das auf eine simple Weisung hin. Der Anwalt wird vermutlich nur eine Eingabezeile sehen, vergleichbar mit der Suchzeile bei Google. Tools werden sprachgesteuert sein, ähnlich dem Bordcomputer des Raumschiffs Enterprise. Wahrscheinlich wird das Prompting sogar ganz entfallen. Wie eine digitalisierte und noch bessere Version der Donna aus Suits wird uns die Software darstellen, was es zu tun gibt, welche Fristen zu erledigen sind, den Posteingang vorsortieren und verteilen, Antwortvorschläge machen usw. „AI will eat Software“ (Jensen Huang).

Der Bedarf an ReFas und Sekretariatsmitarbeitern wird dadurch sehr stark sinken. Deren Tätigkeiten übernimmt schlicht der KI-Agent. Das klassische Vorzimmer wird nur noch zur persönlichen Beziehungsbildung zum Mandanten genutzt. Eher relevant werden Abschlüsse mit Qualifikationen sein, die direkt in die Rechtsberatung hineinragen, wie z.B. Bachelor-Juristen oder Paralegals nach amerikanischem Vorbild. Niemand wird mehr Akten sortieren.

Der Bedarf an Anwälten insgesamt wird stark sinken. Es wird schlicht nicht mehr so viel menschliche Schaffenskraft gebraucht. Für Großkanzleien fällt das Verkaufsargument „Manpower“ weg. Es wird keine große Anzahl an Associates mehr brauchen, die Unmengen an Dokumenten durchwühlen oder tagelang einschlägige Rechtsprechung und Literatur recherchieren. Auch Anwälte im Verbrauchergeschäft, die Alltagsprobleme betreuen, werden es schwer haben. Einen Handwerker mahnen und Mängel rügen? Den PKW-Schaden regulieren? Das übernehmen künftig kostenlose oder geringpreisige KI-Tools im Internet.

Viele Mandanten werden für wichtige Anliegen immer noch zu „ihrem“ Anwalt gehen. Da jeder Anwalt potenziell dieselben Tools zur Verfügung hat, kommt es dabei weniger auf individuelles Fachwissen, sondern auf persönliche Bindung an. Markenbildung wird also noch wichtiger. Die Koryphäe auf einem bestimmten Gebiet hat jetzt nämlich – technologiebedingt – mehr Kapazitäten, kann also noch viel mehr Mandanten annehmen, und zwar überregional.

Insgesamt werden die Kosten für Rechtsberatung sinken Die Stundensätze werden ironischerweise steigen, aber nur ein Bruchteil der Leistungen werden nach diesem Modell wirklich abrechenbar sein. Nur noch echt persönliche Leistungen werden danach vergütet. Stattdessen müssen sich Anwälte alternative Kostenmodelle einfallen lassen. Wieso sollte man tausende Euro für einen einzigen Schriftsatz zahlen, den die KI für einen Bruchteil der Kosten erstellen kann? Nur in Bereichen, die sich nicht so einfach digitalisieren lassen, wird die aufwandsabhängige Vergütung bis auf Weiteres Bestand haben. Das dürfte vor allem Strafverteidiger betreffen, die eine Vielzahl an Verhandlungstagen in Präsenz wahrnehmen müssen.

Wie lange wird dieser Wandel dauern?

Jedenfalls nicht so lange, wie es das Internet gebraucht hat, die gesamte Welt zu verwandeln. Juristen, die den Weg nicht mitgehen, werden eines Tages in einer anderen Welt aufwachen. Dann wird es vermutlich zu spät sein.

Am langsamsten mag der Wandel in der Justiz stattfinden. Diese ist nicht bekannt dafür, den technologischen Wandel schnell mitzugehen, was nicht nur an den darin arbeitenden Menschen liegt, sondern auch an den sehr langsamen Verwaltungs- und Beschaffungsprozessen.

Der bevorstehende Wandel sollte für Betroffene kein Grund für schlaflose Nächte sein. Er ermöglicht es, noch bessere Leistung bei erheblich geringeren Kosten zu erbringen.

Ausbildungsstätten sollten die Ausbildungen anpassen. Kanzleien sollten loslassen und aktiv an der neuen Welt mitgestalten. Wir Juristen können dadurch mehr ‚quality time‘ mit der Familie UND auch dem Mandanten verbringen. Mandanten sollten sich ab heute nicht mehr auf Angebote aus der „alten Welt“ der Rechtsberatung einlassen und aktiv moderne Rechtsberatung einfordern.

Autor: Benjamin Schell ist Rechtsanwalt mit Sitz in Frankfurt am Main und Mannheim. Er ist Fachanwalt für IT-Recht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht. Seine gleichnamige Kanzlei berät bundesweit Unternehmen vor allem in Fragen des IT-Vertragsrechts, KI-Rechts und Datenschutz.

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