Der Rechtsstaat am Limit: Ein Plädoyer für eine wahre Wende

Der deutsche Rechtsstaat steht an einem Scheideweg. Personalmangel, bevorstehende Pensionierungswellen und eine Justiz, die mit schleppenden Verfahren kämpft, treffen auf eine Anwaltschaft, die sich zunehmend digital aufstellt – eine brisante Mischung, die das System an seine Belastungsgrenze bringt.
Die Zahl der Zivilklagen sinkt zwar, doch das entlastet die Gerichte kaum. Im europäischen Vergleich landet Deutschland nur im Mittelfeld, wenn es um Verfahrensgeschwindigkeiten geht. Dabei sollte es eigentlich nicht an Juristen mangeln, die für Schlagkraft des Rechtsstaates sorgen: Im internationalen Vergleich hat Deutschland viele Richter und Staatsanwälte. Die strukturellen Defizite der Justiz sind unübersehbar – und der demografische Wandel wird sie weiter verstärken. Wie lange kann der Rechtsstaat unter diesen Bedingungen noch verlässlich arbeiten? Und vor allem: Warum geben wir uns mit einem System zufrieden, das längst an seine Grenzen stößt – anstatt es konsequent für das digitale Zeitalter neu zu denken?
Reformversuche: Viel Flickwerk statt der große Wurf
Bund und Länder reagieren mit neuen Stellen und Digitalisierungsprojekten. Doch bisher blieb der große Wurf aus. Ein zivilgerichtliches Online-Verfahren für Bagatellfälle, eine digitale Rechtsantragsstelle und ein Videoportal für Gerichtsverfahren sollen Abhilfe schaffen. Auch eine Cloud-Lösung sowie ein Rechtsinformationsportal sind geplant. Doch das Problem: Diese Initiativen bleiben Stückwerk.
Ernüchternd ist ebenso der KI-Einsatz in der Justiz. Zwar gibt es Pilotprojekte – etwa für Dieselklagen und Fluggastrechte –, doch diese sind eng begrenzt. Eine flächendeckende, systematische Nutzung von Künstlicher Intelligenz ist nicht in Sicht. Deutschland betreibt zwar Grundlagenforschung, doch der praktische Einsatz bleibt weit entfernt. Selbst die jüngste Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ hat es versäumt, eine klare Vision für den Einsatz von KI in der Justiz zu entwickeln, und sich stattdessen darauf beschränkt, lediglich die rechtlichen Zulässigkeitsgrenzen zu beleuchten. Dabei zeigt der Blick ins Ausland, dass es auch anders geht.
Visionen sind gefragt: Wie Technologie den Rechtsstaat revolutionieren kann
Statt weiter an veralteten Strukturen herumzudoktern, müsste Deutschland sich ein Beispiel an Ländern wie Singapur nehmen. Dort setzt die Justiz konsequent auf digitale Vernetzung und Automatisierung. Eine zentrale Kommunikations- und Arbeitsplattform ermöglicht den Austausch zwischen Anwälten, Behörden und Gerichten in Echtzeit. KI hilft Richtern, Akten zu analysieren, rechtliche Fragen herauszuarbeiten und Urteile schneller zu fällen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Verfahrensdauern sinken, Gerichte werden entlastet, und Bürger erhalten schneller Rechtssicherheit.
Derartige Ansätze könnten auch die Grundlage für einen modernen, entlasteten und effizient arbeitenden digitalen Rechtsstaat in Deutschland bilden. Wie könnte ein solcher konkret aussehen? Er braucht vier zentrale Bausteine:
1. Bürger-KI für mehr Rechtsklarheit
Ein moderner Rechtsstaat darf sich nicht darauf beschränken, Gesetze, Bescheide und Urteile zu formulieren – er muss sicherstellen, dass Bürger diese verstehen. Eine KI-gestützte Plattform könnte Bürgern und Unternehmen an dieser Stelle helfen, ihre Rechte besser zu erkennen – und unnötige Klagen verhindern. Beispielsweise könnte eine solche KI relevante Urteile und Präzedenzfälle analysieren und in verständlicher Sprache aufbereiten. Im Vergleich dazu wirkt das von Deutschland geplante Rechtsinformationsportal schon lange vor seiner Live-Schaltung wie ein Relikt aus der Vergangenheit: Statt moderne Technologien zur Unterstützung der Nutzer zu integrieren, sollen lediglich Gesetze und Urteile zusammengestellt werden – ohne jegliche Hilfestellung beim Verständnis oder der praktischen Anwendung.
2. Digitale Streitbeilegung
Der massive Rückgang von Zivilklagen liegt unter anderem daran, dass viele Menschen und Unternehmen lange Verfahren scheuen. Eine KI-gestützte Streitbeilegungsplattform könnte hier ansetzen und helfen, Konflikte schneller zu lösen, indem sie eine objektive Analyse von Erfolgsaussichten vornimmt und Mediationsvorschläge generiert. So könnten sich viele Streitfälle außergerichtlich klären lassen – eine massive Entlastung für die Justiz. Baustein 1 und 2 könnten dabei auf einem gemeinsamen KI-Modell basieren – eine technisch integrierte Hilfe für Bürger und Unternehmen, die den Rechtsstaat effizienter und zugänglicher machen würde.
3. Vernetzte Arbeitsplattform für Justiz, Anwälte und Bürger
Singapur macht es vor: Dort arbeiten alle Beteiligten eines Gerichtsverfahrens nahtlos über eine gemeinsame Plattform zusammen und treiben die Streitbeilegung effizient voran. Deutschland hingegen erwartet selbst bei der Umsetzung seiner Digitalisierungsinitiative nur das beschriebene Flickwerk. Zumindest mangelt es aber nicht mehr an der Vision einer bundesweit einheitlichen Plattform – jedenfalls nicht für die Zivilgerichtsbarkeit. Die erwähnte, vom BMJ eingesetzte Reformkommission hat jüngst die Einführung einer cloudbasierten Kommunikationsplattform empfohlen. Diese sollte mit höchster Priorität realisiert werden.
4. KI als Assistent für Richter und Behörden
Vollautomatische Urteile wird es in Deutschland nicht geben – und das ist auch gut so. Doch KI kann Richter und natürlich auch Behörden unterstützen, indem sie Akten analysiert, relevante Urteile findet und Entscheidungsgrundlagen bereitstellt. Bayern und Nordrhein-Westfalen forschen bereits an einem generativen Sprachmodell für die Justiz. Ein solches System könnte Richtern helfen, große Mengen an Informationen schneller zu verarbeiten und so die Effizienz und Qualität der Rechtsprechung zu verbessern. Was fehlt, ist eine klare, zukunftsgerichtete Strategie für den KI-Einsatz in der Justiz. Warum die Reformkommission an dieser Stelle so zögerlich bleibt, ist nicht nachvollziehbar – schließlich ist längst bekannt, dass Deutschland in Sachen Justiz-Digitalisierung um mindestens eine Dekade hinter Vorreitern wie Singapur zurückliegt.
Fazit: Keine Zeit mehr für halbherzige Reformen
Die Probleme der Justiz sind bekannt, alternative Lösungen liegen auf dem Tisch. Deutschland hat die Chance, mit einer konsequenten Digitalisierung einen effizienteren, bürgerfreundlicheren und zukunftsfähigen Rechtsstaat zu schaffen. Die EU hat mit ihrer KI-Verordnung den rechtlichen Rahmen gesetzt, um Risiken zu begrenzen und dennoch Innovationen zu ermöglichen. Jetzt liegt es an Deutschland, diesen Rahmen zu nutzen und mutige Schritte zu gehen.
Autor: Dr. Heiko Krüger ist Rechtsanwalt, Autor und Professor für Recht an der IU Internationale Hochschule. Sein Schwerpunkt liegt auf KI, Legal Tech und Gov Tech mit ihren Einflüssen auf Recht und Gesellschaft. In seinem jüngsten Buch Staat 3.0 analysiert er die derzeitigen und zu erwartenden digitalen Umbrüche in den Säulen des Staates und der Rechtsanwaltschaft – ein unverzichtbarer Leitfaden für Visionäre und diejenigen, die sich Gedanken über die digitale Zukunft unseres Staates und Rechtssystems machen.